Kapitel 1: Schatten


Bevor der Zug in den kleinen Bahnhof einrollt, passiert er eine schmale Brücke und ich kann durch das leicht getönte Zugfenster einen Blick auf die Altstadt erhaschen. Der Anblick lässt mein Herz schneller schlagen. Die untergehende Sonne taucht die Fachwerkhäuser in ein warmes Licht und bringt den Fluss, der sich wie eine dunkle Anakonda durch das gesamte Viertel schlängelt, zum Funkeln. 10 Jahre war ich nicht mehr hier. Der Tag, an dem ich die Stadt auf umgekehrtem Weg verließ, kommt mir auf einmal vor wie gestern.

 

Der Bahnhof ist leer, außer mir verlässt nur noch eine alte Dame den Zug. Zielstrebig schlage ich den Weg Richtung Markt ein. Als mir Herr Thom die Adresse nannte, hatte ich sofort das Haus vor Augen. Damals wohnte dort die Betreiberin des kleinen Stadtcafés, mit deren Tochter ich mich zu Grundschulzeiten an den Wochenenden zum Spielen traf. Als ich Herrn Thom am Telefon nach der Familie fragte, konnte er mir nicht sagen, ob sie noch in der Stadt oder weggezogen waren. Dabei kennt hier doch eigentlich jeder jeden.

 

Es dauert nur fünf Minuten, da erreiche ich mein neues Zuhause. Das Haus meiner ehemaligen Freundin hat sich äußerlich nicht verändert und sieht exakt so aus wie in meiner Erinnerung. Nur die überdimensionalen Rosenbüsche links und rechts von der Eingangstür sind mir neu. Ich frage mich gerade, wer wohl die Idee hatte diese Ungetüme dorthin zu pflanzen, als die Tür aufgeht und eine junge Frau heraustritt.

Sie bleibt auf dem Treppenabsatz stehen und sieht mich fragend an.

"Du bist bestimmt Joelle, oder? Du traust dich wohl nicht rein?"

Ich grinse sie verlegen an und gehe die drei Stufen hoch.

"Angst hab ich keine, oder sollte ich?"

Die junge Frau lacht und schüttelt meine Hand.

"Ach was. Ich bin Kelly, mit mir musst du es die nächste Zeit aushalten."

Während wir das Haus betreten, merke ich wie Kelly mich von der Seite mustert. Um die Stille zu unterbechen frage ich:

"Wie lange wohnst du denn schon hier?"

"Einen knappen Monat. Deine Vorgängerin ist auch erst vor einer Woche ausgezogen. Ich glaube sie wurde in die Belladonna Bucht versetzt."

"Oh, die Glückliche!" Ich seufze und merke dann wie mich Kelly verdutzt ansieht.

"Wolltest du etwa nicht nach Windenburg? Ist doch toll hier!"

Ich schüttele vorsichtig den Kopf. "Die 18 Jahre hier haben mir gereicht."

Kelly geht nicht auf meinen Kommentar ein, aber ich merke wie es in ihr arbeitet.

"Komm, ich zeige dir dein Zimmer. Hier entlang"!

Wir gehen eine schmale Treppe nach oben in den ersten Stock. Dort war ich noch nie. Das Zimmer meiner Grundschulfreundin hatte sich damals im Erdgeschoss befunden. Überhaupt sieht das ganze Haus von innen vollkommen verändert aus.

 

Oben angekommen staune ich über die Größe meines Zimmers.

"Du hast auch ein eigenes Bad. Ansonsten gibt es nicht viel zu erzählen. Das Wichtigste an Möbeln ist vorhanden, gehört alles dem Vermieter. Den Rest kannst du verändern wie du magst."

Außer einem Bett, Schreibtisch, Sofa und einer Kommode ist der Raum leer. Auf einem Nachttisch steht ein Strauß Tulpen. Kelly bemerkt meinen Blick.

"Die habe ich für dich besorgt. Ich dachte, dann sieht dein Zimmer gleich viel netter aus."

Ich bedanke mich lächelnd und stelle meine Tasche ab.

"Dann komm erstmal in Ruhe an. Hast du schon etwas zu Abend gegessen?"

Ich verneine und Kelly lädt mich ein, mit ihr in einer Stunde in der Altstadt eine Kleinigkeit Essen zu gehen.

Da ich meinen Eltern versprochen habe, mich nach meiner Ankunft bei ihnen zu melden, schalte ich gleich den PC ein und starte einen Video-Anruf. Es dauert keine drei Sekunden, da ploppt das Gesicht meines Vaters auf dem Bildschirm auf. Er scheint auf meinen Anruf gewartet zu haben.

"Lilly, komm schnell! Joelle ist da!", ruft er über seine Schulter und meine Mutter kommt herbeigeeilt. Sie quetschen sich beide nebeneinander vor ihren kleinen Laptop und reden sogleich wild durcheinander.

"Bist du gut angekommen?"

"Hatte der Zug Verspätung?"

Ich lächle sie müde an und hebe beschwichtigend die Hände.

"Alles ist gut. Mir geht es gut. Ich bin nur etwas müde von der langen Zugfahrt."

"Hast du deine Mitbewohnerin schon kennengelernt?" Meine Mutter sieht besorgt aus, also versuche ich noch breiter zu lächeln und gebe mir alle Mühe, einen glücklichen Eindruck zu machen.

"Ja, sie heißt Kelly. Sie scheint auch noch nicht lange in der Stadt zu sein."

"Na das ist doch wunderbar! Dann kannst du ihr alles zeigen! Du kennst die Gegend doch wie deine eigene Westentasche."

"Mama, ich glaube nicht, dass sie..."

Mein Vater unterbricht mich. "Wann geht deine erste Schicht los?"

Ich seufze. "Morgen früh um acht Uhr werde ich auf der Polizeistation erwartet."

Meine Eltern strahlen jetzt wieder um die Wette.

"Wir sind so stolz auf dich!"

Ich blicke in ihre sonnengebräunten Gesichter und lächle tapfer weiter.

"Es ist doch bestimmt schon spät bei dir. Geh jetzt am besten gleich ins Bett, damit du morgen früh gut ausgeschlafen bist!"

Ich nicke und verabschiede mich, nicht ohne zu versprechen, mich am nächsten Tag wieder zu melden.

 

Nach diesem Telefonat brauche ich erst einmal frische Luft. Ich trete auf den kleinen Balkon, der von meinem Zimmer abgeht und blicke auf die Straße. Von hier aus kann ich den Marktplatz sehen und in der anderen Richtung schimmert in naher Ferne der Fluss. Die Sonne ist nun fast verschwunden und eine kalte Brise fährt durch meine Glieder. Ein Blick auf die Uhr veranlasst mich dazu, mich auf die Suche nach Kelly zu machen. Ich brauche jetzt dringend etwas im Magen, bevor dessen Knurren die ganze Nachbarschaft aufschreckt.


Die Bar ist nur mäßig besucht und wir haben freie Platzwahl, was am frühen Sonntagabend nicht weiter verwunderlich ist. Kelly bestellt uns eine Wurst- und Käseplatte, über die wir uns sogleich hermachen.

"Und, wie ist Herr Thom so?", frage ich, bevor ich mir ein Käsebrot in den Mund schiebe.

"Eigentlich ganz okay", antwortet Kelly und greift sich schon das zweite Stück Brot. "Er kommandiert ganz gerne rum, aber der raue Ton lässt nach einer Weile nach, wenn du alles zu seiner Zufriedenheit erledigst."

Das klingt ja fabelhaft. Keine Verbesserung also zu meinem ehemaligen Vorgesetzten.

"Und du bist also hier aufgewachsen?", versucht Kelly ein Gespräch zu starten.

Ich sehe ihr direkt in die Augen und nicke. "Ja, mit 18 Jahren bin ich weggezogen, direkt nach dem Schulabschluss."

"Und deine Eltern, wohnen die noch..."

"Nein, sind ausgewandert."

Mein Ton klingt reservierter als gewollt, deshalb setze ich nach: "Sie lieben wärmere Gefilde und das Meer. Naja, wer nicht, oder?"

Ich versuche zu lächeln und Kelly lächelt zurück. Ich komme mir unglaublich dumm dabei vor.

Während ich fieberhaft nach einem Gesprächsthema suche, das nichts mit mir selbst zu tun hat, höre ich plötzlich jemanden meinen Namen rufen.

"Joelle?!"

Ich drehe mich um und suche den Raum ab. Am Eingang steht ein junger rothaariger Mann. Er ist schlaksig und großgewachsen. Mein Herz bleibt für einige Sekunden stehen. Kelly ist meinem Blick gefolgt und sieht den jungen Mann prüfend an. Ich löse mich aus meiner Erstarrung und gehe auf ihn zu.

"Leo, ich...", kommt es flüsternd aus meinem Mund. Dabei wollte ich eigentlich selbstsicher und fröhlich klingen.

"Was machst du hier?" Die Frage ist nicht freundlich gemeint. Er sieht mich finster an. Bevor ich etwas erwidern kann, hebt Leo die Hand. "Nein, eigentlich will ich nichts hören. So wie ich die letzten 10 Jahre nichts von dir gehört habe."

Er macht auf dem Absatz kehrt und verlässt schnurstracks die Bar.

"Warte!" Ich weiß, dass ich verzweifelt klinge, aber das ist mir jetzt egal. Ohne Kelly eines Blickes zu würdigen, die immer noch verdutzt am Tisch sitzt, renne ich ihm hinterher. Sein weißer Pullover leuchtet hell in der Abenddämmerung und erleichtert mir die Verfolgung.

Als ich ihn endlich einhole und am Arm packe, bleibt er stehen. Er sieht mich nur an und ich werde ganz klein.

"Leo, es tut mir so Leid, ich..."

Tränen steigen mir in die Augen und ich versuche sie zu unterdrücken.

Durch den feuchten Schleier vor meinen Augen kann ich sehen, wie Leos Gesichtszüge weicher werden. Dann geht er plötzlich einen Schritt auf mich zu und umarmt mich. Mein Körper entspannt sich sofort in seinen Armen und ich seufze tief.

"Dann geht es dir das also auch so nahe?", flüstert er in mein Ohr. "Bist du deshalb einfach abgehauen?"

Ich löse mich aus seiner Umarmung und schaue ihn verblüfft an. "Was?", frage ich und wische eine Träne von meiner Wange.

"Na, das mit Clara." Leo kneift seine Augen zusammen und runzelt die Stirn. "Was dachtest du denn?"

Ich weiche seinem Blick aus und starre auf die Pflastersteine hinter ihm.

"Ich dachte du meinst das mit uns. Es tut mir so Leid, dass ich einfach abgehauen bin, ohne es dir zu erklären."

Leo schweigt.

Ich schaue ihm zögernd wieder in die Augen, weiß seinen Blick aber nicht zu deuten.

"Lass uns rein gehen und was trinken." Er schlendert gemächlich zurück zur Bar und ich folge ihm unsicher.

 

Kelly unterhält sich mit dem Barkeeper. Als sie uns sieht, nickt sie mir kurz zu und wendet sich dann wieder ihrem Gesprächspartner zu.

Leo und ich setzen uns an die Bar.

"Ich bin dir nicht mehr böse, dass du das mit uns damals einfach so beendet hast", sagt Leo endlich, nachdem wir schweigend auf unsere Getränke gewartet haben. Er trinkt einen großen Schluck und sieht dann zu mir herüber. "Ich war es lange. Aber jetzt bin ich es nicht mehr."

Erleichtert lächle ich ihn an. "Danke."

Ich weiß nicht, was ich weiter sagen soll. Ich fühle mich wieder wie 16, als Leo mir seine Liebe gestand, unten am Fluss, hinter unserem Haus. Damals wusste ich auch nicht so recht, was ich sagen soll. Nur hat Leo damals mein Schweigen mit einem Kuss erwidert, das wird er heute wohl nicht tun.

"Willst du gar nicht über Clara reden?", fragt er plötzlich, ohne mich dabei anzusehen.

Unsicher drehe ich mein Glas in den Händen. "Nein, eigentlich nicht, wenn ich ehrlich bin."

"Du hast das alles also vergessen." Eine Feststellung, keine Frage.

"Nein, vergessen nicht, ich will nur nicht darüber reden", versuche ich mich zu verteidigen.

Leo seufzt resigniert und trinkt sein Glas in einem Zug leer. "Also, was machst du hier?"

Ich erzähle ihm kurz von meiner Polizeiausbildung und anschließenden Arbeit in Downtown. "Dann hatte ich genug von den betrunkenen ausgeraubten Partygängern und habe meine Versetzung beantragt. Leider wurde hier in Windenburg die erste Stelle frei und als ich es erfuhr, konnte ich keinen Rückzieher mehr machen. Ich wollte nicht zurückkommen. Und ich habe ehrlich gesagt auch nicht vor, lange zu bleiben." Den letzten Satz flüstere ich nahezu, damit Kelly nichts davon hört.

Leo zieht die Augenbrauen hoch und gibt dem Barkeeper ein Zeichen zum Zahlen.

"Nicht lange bleiben, so so..." Er scheint genervt. Oder enttäuscht. Ich kann seine Körpersprache einfach nicht entziffern.

"Sind denn die anderen alle noch hier?", frage ich. Offensichtlich will er über alte Zeiten reden, also gebe ich ihm die Gelegenheit, auch wenn es mir widerstrebt.

"Oh ja!", er lacht abschätzig. "Die haben sich hier alle eingenistet. Bis auf Tommy, der ist nach San Myshuno abgehauen. Macht Gamedesign oder so."

Ich werde einfach nicht schlau aus ihm. Spricht man so verächtlich über seine alten Freunde?

"Ich werde dann jetzt mal gehen." Leo steht auf und sieht mich fragend an.

"Ja, ich gehe auch." Kelly scheint ihn gehört zu haben, denn sie sie schiebt einen Schein über die Theke und gesellt sich zu uns. Da sie es offensichtlich erwartet, mache ich die beiden kurz miteinander bekannt, bevor wir uns draußen  verabschieden.

"Also dann. Wir werden uns jetzt sicher öfter über den Weg laufen." Leo lächelt, aber ich merke, dass er das nur tut, weil Kelly dabei ist.

"Ja, dann unterhalten wir uns auch mal ausführlicher", sage ich und umarme ihn kurz.

Leo hält mich länger in der Umarmung als von mir beabsichtigt und flüstert so leise, dass nur ich es hören kann:
"Wir alle haben Schuld auf uns geladen. Vergiss das nicht, Joelle."

Dann lässt er mich los, schüttelt Kelly die Hand und verschwindet in die Nacht.

 

Als ich Zuhause in meinem Bett liege, kann ich nur schwer einschlafen. Eine Sache will mir nicht aus dem Kopf gehen: Clara.