Kapitel 12: Beleuchtung


Der Umzug zu Kira und Dan gestaltet sich einfach. Am Samstagmorgen holt mich Dan ab und gemeinsam schaffen wir meine wenigen Sachen in sein Auto. Da das Gästehaus der beiden möbliert ist, muss ich mich noch nicht einmal um neue Möbel kümmern, sodass sich der Umzug eher wie eine Urlaubsfahrt anfühlt. Als wir von der Fähre hinunterfahren und mein neues Zuhause erreichen, merke ich wie sich mein Herzschlag beschleunigt.

Die Gegend hier ist wunderschön, aber ich weiß auch, dass ich nicht ewig bleiben möchte. Was ich Merlin beim Grillabend gesagt habe stimmt ja wirklich: Ich würde es auf Dauer nicht ertragen, an einem Ort zu leben, der den Tod einer Freundin bedeutet hat.

"Da sind wir, dann mal los!" Dan parkt das Auto unter dem Carport und hot dann meine Taschen aus dem Kofferraum. Gemeinsam laufen wir hinüber zum Gästehaus. Dort angekommen erwartet uns bereits Kira.

"Joelle, da bist du ja! Herzlich willkommen!" Sie drückt mich fest an sich und flüstert mir ins Ohr: "Ich freu mich ja so, dass du da bist."

Während Dan sich ins Haupthaus verabschiedet, zeigt Kira mir mein neues Zuhause. "Das ist alles deins! Oben ist der Schlafbereich und eine kleine Terrasse." Sie gibt mir einen Schlüsselbund. "Das ist der Schlüssel für die Haustür. Und das hier ist der Schlüssel für unser Haus. Du kannst jederzeit rüberkommen! Wirklich, jederzeit!"

"Danke Kira, das ist wirklich nett, dass das so spontan geklappt hat."

"Jetzt komm erstmal in Ruhe an. Wenn du magst, kannst du gleich noch rüberkommen. Ich koche jetzt Mittagessen. Du bist herzlich eingeladen uns Gesellschaft zu leisten."

Sie winkt noch einmal und verschwindet dann nach draußen.

Ich mache mich sogleich mit meinem neuen Zuhause vertraut. Es ist etwas größer als ich dachte und großzügig ausgestattet. Hier fehlt es wirklich an nichts. Meine Sachen sind schnell ausgepackt und verstaut. Ich setze mich auf die kleine Dachterrasse und atme tief durch. Es ist ganz ruhig, nur das ferne Rauschen des Meeres ist zu hören. Dass ich von hier aus keinen direkten Blick auf den Strand habe, beruhigt mich.

Da vibriert mein Handy in meiner Hosentasche. Im ersten Moment denke ich an Vinny. Ich hatte ihn zum morgigen Bowlingabend eingeladen und noch keine Rückmeldung bekommen.

Aber es ist eine Nachricht von Leo.

"Die eine Woche ist rum. Lass uns heute treffen. 17 Uhr im Irish Pub?"

Das hätte ich beinahe vergessen. 7 Tage sind vergangen seit dem Streit mit Leo. Ich texte ihm schnell eine Zusage zurück. Ob ihm wohl meine Bemühungen der letzten Tage ausreichen werden, um nicht mehr sauer auf mich zu sein?

 

Schließlich raffe ich mich auf uns schlendere hinüber zum Haupthaus. Kira finde ich oben in der Küche bei den Vorbereitungen des Mittagessens.

"Und, alles okay?", fragt sie und schaut kurz auf.

Ich nicke. "Alles perfekt! Vielen Dank!"

Gemeinsam zaubern wir in kürzester Zeit einen Salat und Sandwiches. Als Dan zum Essen kommt, ist er begeistert. "Also wenn das jetzt jeden Tag so läuft...!" Er lacht laut auf und zwinkert mir zu, als Kira ihm einen tadelnden Blick zuwirft.

Nach dem Essen geht Karl in den Pool und ich geselle mich zusammen mit Kira dazu.

"Hier kann man es aushalten, oder?" Kira reckt ihr Gesicht der Sonne entgegen und schließt die Augen. Ich lasse meinen Blick über das Meer gleiten, über die Klippen und den Sandstrand und erwidere nichts. Sieht sie denn gar nicht, was ich sehe? Mir fällt ein, dass Kira damals erst später an den Strand kam. Dass Clara da schon längst von den Wellen verschluckt war. Dass sie nie mit eigenen Augen gesehen hat, was wir anderen gesehen haben. Sie lag oben im Haus, hat ihren Rausch ausgeschlafen und ist erst von den Schreien der anderen wach geworden.

"Hast du heute noch was schönes vor?" Kira ist aufgestanden und hat sich an den Beckenrand gesetzt. Ihre Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Ich brauche einen Moment, um wieder in der Wirklichkeit anzukommen und setze mich dann zu ihr. Karl macht einen Bauchplatscher, das Poolwasser glitzert in der Mittagssonne und Kira sieht mich fragend an.

"Äh... Ja! Ich gehe nachher noch in die Stadt, ich habe eine Verabredung."

"Mit Vinny?" Kira grinst übers ganze Gesicht.

Ich schüttle den Kopf und lüge: "Nein. Mit einer Kollegin aus dem Präsidium."

"Achso." Kira bewegt ihre Beine sanft im Wasser und erzeugt kleine Wellen. "Kommt Vinny denn morgen zum Bowlen?"

Ich zucke mit den Schultern. "Er hat noch nicht geantwortet, mal sehen."

"Ich würde ihn wirklich gerne kennenlernen." Kira lässt sich ins Wasser gleiten und schreit kurz auf. "Uuuh, das ist aber kalt!"

"Ist es gar nicht, Mama!" Karl kommt ihr entegegen geschwommen und spritzt seiner Mutter einen Schwall Wasser ins Gesicht.

"Hey, na warte!" Kira und Karl spielen im Wasser und jagen sich durchs Becken.

"Komm, Joelle! Du musst mir helfen!", ruft Kira mich zu Hilfe.

"Nein, du musst mir helfen!" Karl kommt zu mir geschwommen und zieht mich ins Wasser. Lachend folge ich ihm und stimme in die Wasserschlacht mit ein.


Pünktlich um 17 Uhr betrete ich den Pub. Von Leo ist keine Spur zu sehen. Ich laufe durch den Laden und sehe mich nach allen Seiten um. Ganz hinten, etwas versteckt an der Bar, entdecke ich ihn schließlich.

Die rote Barbeleuchtung taucht ihn in ein warmes Licht und lässt seine Haare noch feuriger erscheinen.

"Hallo Leo", begrüße ich ihn leise und setze mich neben ihn auf den freien Barhocker.

Er nickt mir zu, ein angedeutetes Lächeln auf den Lippen. Ein gutes Zeichen, denke ich.

"Wie war deine letzte Woche?", fragt er und bestellt beim Barkeeper ein Bier.

"Ziemlich stressig. Zumindest was die Arbeit angeht." Ich weiß, dass er das nicht meinte, will es aber langsam angehen.

"Wie sieht es mit unserer Abmachung aus?" Er sieht mich direkt an und mein Herz klopft schneller.

"Ich habe mit Merlin gesprochen. Er hat mit mir seine Erinnerungen an die Nacht von damals geteilt."

"Und?"

"Naja..." Ich zögere. "Er hat vorgegeben, an den Unfall zu glauben und einen Selbstmord nicht in Betracht zu ziehen."

"Vorgegeben? Du hast es ihm also nicht abgenommen?"

"Ich weiß nicht... Ich bin mir unsicher. Er hat sehr abwehrend auf die Selbstmordtheorie reagiert, so als ob er davon ablenken wollte. Andererseits hat er auch gute Argumente für einen Unfalltod."

Leo zieht die Augenbrauen hoch. "Und die wären?"

"Merlin hat fast die gesamte Zeit an der Bar bei den Getränken gestanden. Er sagt, dass Clara unglaublich viel getrunken hätte."

Leo runzelt die Stirn. "Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie besoffen war."

Ich lächele still in mich hinein und sehe Leo dann herausfordernd an. "Wann hast du sie an diesem Abend überhaupt richtig gesehen? Du warst die ganze Zeit bei mir."

Jetzt muss auch er lächeln. "Okay, da hast du Recht. Und weiter?"

"Merlin ist fest davon überzeugt, dass Clara zuviel getrunken und dann oben am Haus den Abstand zu den Klippen falsch eingeschätzt hat. Ich habe daraufhin Zuhause nochmal in meine Kopie der Fallakte geschaut." Ich mache eine künstlerische Pause. "Sie hatte 1,2 Promille Alkohol im Blut."

Leo schweigt und trinkt einen Schluck. Ich warte ab und bestelle mir ein Glas Wein.

"Und du glaubst jetzt also auch felsenfest an einen Unfall, ja?" Seine Stimme ist eine Spur härter geworden.

"Leo! Wir werden wahrscheinlich nie rauskriegen, was wirklich mit Clara passiert ist. Momentan erscheint mir ein Unfall einfach am wahrscheinlichsten! Unsere Erinnerungen an den Abend sprechen dafür, ihr Alkoholkonsum spricht dafür und auch die Polizei damals hat es als Unfall eingestuft."

"Jaja, das mag ja alles sein. Die Fakten mögen vielleicht dafür sprechen. Aber... ich habe da so ein ungutes Gefühl bei der Sache. Die Aussagen von Merlin und Tommy bei der Polizei finde ich immer noch seltsam. Und deshalb bleibt uns jetzt nur noch ein Weg."

Ich stutze. "Nämlich welcher?"

"Wir müssen nach San Myshuno fahren und mit Tommy reden!"

"Oh... Okay." Ich trinke einen Schluck Wein und überlege. "Und du meinst, das bringt uns weiter?"

Leo nickt aufgebracht. "Auf jeden Fall! Tommy war seit 10 Jahren nicht mehr in Windenburg. Er hat das alles hinter sich gelassen und einen ganz anderen Blick auf die Sache von damals. Ich hoffe, dass er ehrlich zu uns sein kann und zu seiner Aussage von damals steht. Vielleicht weiß er etwas, das wir noch nicht wissen. Etwas, das uns erklärt, warum er damals an einen Selbstmord glaubte - oder vielleicht immer noch glaubt."

"Bist du dir da so sicher?"

"Ja! Und ich verspreche dir, wenn uns Tommy nicht weiter bringt, höre ich auf weiter zu bohren. Dann lasse ich die ganze Sache auf sich beruhen."

Ich ziehe überrascht die Augenbrauen hoch. "Wirklich? Na wenn das so ist... Allerdings werde ich unter der Woche nicht frei bekommen. Das heißt es geht erst nächstes Wochenende."

"Kannst du nicht einen Tag krank machen?" Leo scheint es kaum mehr abwarten zu können und würde wohl am liebsten sofort den nächsten Zug nehmen.

"Nein, das geht nicht. Es ist so viel zu tun, ich kann die Kollegen wirklich nicht hängen lassen."

Leo schnaubt. "Okay. Ich buche uns einen Zug für Samstag früh. Ich texte dir dann die Zeit."

Wir nicken uns zu und stoßen mit unseren Gläsern an.

"Erzähl mir von deiner Arbeit. Warum habt ihr soviel zu tun?"

Ich bin überrascht von Leos Interesse, lasse mir das aber nicht anmerken.

"Du hast sicherlich von den vielen Einbrüchen in Windenburg und Umgebung gehört. Da sind wir dran. Allerdings gibt es kaum eindeutige Hinweise. Wir ermitteln quasi ins Leere."

"Das tut mir Leid. Sind es denn mit Sicherheit immer verschiedene Täter?"

Ich schüttele den Kopf und überlege, wieviel ich Leo erzählen darf. Streng genommen eigentlich gar nichts. "Wir denken es ist eine Bande. Ähnliche Einbrüche gab es auch schon in Sunset Valley und Riverview."

"Ich kann dir leider nicht so viel Spannendes von meiner Arbeit erzählen", erwidert Leo und leert sein Bierglas.

"Ach ja?" Ich sehe ihn interessiert an.

"Ich arbeite als Nachtwärter in einem Museum. Da schleiche ich dann durch die Gänge und versuche, nicht von Geistern erschreckt zu werden."

Ich muss lachen und auch Leo kann sich ein Grinsen jetzt nicht mehr verkneifen.

Wir bezahlen unsere Getränke und gehen nach draußen vor den Pub. Zum Abschied umarme ich Leo. Er lässt es zu und das freut mich.

"Ich warte dann auf deine Nachricht, welchen Zug wir am nächsten Samstag nehmen!", rufe ich ihm zum Abschied hinterher und wende mich erst zum Gehen, als ich ihn in der Dunkelheit nicht mehr sehen kann.