Kapitel 15: Mondlicht


Im Zug ist es voll, aber Leo und ich finden zum Glück den allerletzten Waggon völlig leer vor.

"Und, was hälst du von der ganzen Sache?", fragt Leo mich, nachdem wir uns gesetzt haben.

Ich zucke mit den Schultern. "Es scheint doch ein Unfall gewesen zu sein."

"Was ist mit Shirani und dem Streit zwischen ihr und Clara?" Leo muss unvermittelt gähnen, aber seine Augen sind hellwach und fixieren mich eindringlich.

"Ja, der Streit... Ich glaube ich muss nochmal mit Shirani reden. Beim letzten Mal, als ich sie nach der Nacht damals gefragt habe, hat sie abgeblockt. Sie ist die einzige, von der ich die Erinnerung noch nicht kenne. Wir müssen rausbekommen, worum es in dem Streit ging."

"Und Shirani wird dir ehrlich antworten, ja? Das glaubst du doch selber nicht!"

Ich sehe Leo tadelnd an. "Ich bin Polizistin! Wenn sie lügt, merke ich das!"

Er schüttelt nur den Kopf und schaut aus dem Fenster. Der Zug hat inzwischen volle Fahrt aufgenommen und das Grün der Wiesen und Wälder zieht verwaschen an uns vorbei, während in der Ferne die Skyline von San Myshuno verblasst.

Die restliche Fahrt über reden wir fast kein Wort miteinander. Ich lasse in Gedanken den Tag noch einmal Revue passieren und muss daran denken wie unterschiedlich sich unsere Leben doch entwickelt haben. Tommys Worte bei der Verabschiedung wollen mir auch nicht aus dem Kopf gehen. Aus dem Augenwinkel beobachte ich Leo, der mit halbgeschlossenen Augen seinen Kopf an die Fensterscheibe gelegt hat. Sollte er wirklich noch mehr von mir wollen als Freundschaft? Ich kann es mir nicht vorstellen. Er gibt mir ja noch nicht einmal das Gefühl, dass er mit mir befreundet sein will. Nur Claras Tod hält uns zusammen.

Es ist 23 Uhr, als wir Windenburg erreichen. Ich verabschiede mich schnell von Leo, um noch die letzte Fähre zu erwischen.


Auf der Insel angekommen werfe ich einen Blick auf Shiranis Haus, das in der Ferne im Mondlicht leicht verschwommen zu erahnen ist. Während ich mich auf den Weg nach Hause mache, gehe ich in Gedanken durch, wie ich sie noch einmal auf den verhängnisvollen Abend von damals ansprechen könnte.

Das Haupthaus von Kira und Dan liegt im Dunkeln, kein einziges Fenster ist erleuchtet. Das Tor hinter mir schließt sich leise und ich wende mich nach rechts zum Gästebungalow. Ich habe gerade den Schlüssel für die Wohnungstür herausgesucht und betrete die Veranda, da erhebt sich eine Gestalt vor mir im Dunkeln. Ich erschrecke mich, als die Verandabeleuchtung anspringt.

"Guten Abend, Joelle. Entschuldige, wenn ich dich erschreckt habe." Kira lächelt mich verschämt an und deutet dann auf die Laternen. "Die haben Bewegungssensoren. Ich sitze hier schon eine Weile und sie sind dann ausgegangen."

"Schon gut." Ich atme tief durch und umarme sie kurz. "Warum bist du noch auf? Es ist doch schon so spät?"

"Ich wollte nur sichergehen, dass du heil nach Hause gekommen bist. Wie war es in der Großstadt?"

Wir setzen uns und ich reime mir schnell ein paar Sätze zusammen, was ich mit meiner Freundin in San Myshuno unternommen haben könnte. Dass ich Kira anlügen muss, bereitet mir ein schlechtes Gewissen, weswegen ich es auch nicht übertreibe.

"Das klingt doch toll! Freut mich, dass du einen schönen Tag hattest." Sie steht auf und gähnt. "Ich werde dann mal Dan Gesellschaft leisten und ins Bett verschwinden. Komm doch morgen zum Frühstück vorbei, wenn du magst. Oder schlaf aus, wie du willst."

Ich bedanke mich und winke ihr noch kurz hinterher, bevor auch ich im Haus verschwinde.

Vor dem Schlafengehen checke ich noch kurz mein Handy. Vinny hat mir eine Nachricht geschrieben.

"Lust auf Sonntagsbrunch im The Hashtag? Würd mich freuen! V."

Ich überlege einen kurzen Moment und schreibe dann zurück: "Ich dachte wir sind nur Trainingspartner? Was hat Brunchen mit einem Workout zu tun?"

Es dauert keine Minute, da kommt die Antwort.

"Na gut. Erst Brunch und dann zusammen eine Runde Joggen, um die angefressenen Kilo wieder loszuwerden?"

Ich muss lachen und texte zurück. "Okay, um 10 Uhr vorm Hashtag."

Dann schalte ich mein Handy auf lautlos, lasse mich in die Kissen fallen und schlafe sofort ein.


"Das war unglaublich! Ich kann mich keinen Meter mehr bewegen..."

Vinny und ich lassen uns auf eine Bank in der Nähe des The Hashtag fallen. Der Brunch liegt uns beiden schwer im Magen.

"Und du willst jetzt wirklich noch joggen gehen?" Vinny sieh mich verzweifelt an und hält sich dabei seinen Bauch.

Sein Anblick bringt mich zum Lachen. "Trainingspartner trainieren für gewöhnlich miteinander, schon vergessen?"

Vinny zuckt mit den Schultern. "Was wäre denn so schlimm daran, wenn wir mehr als nur Trainingspartner wären?"

Er klingt vollkommen ernst und das macht mich nervös. Dabei will ich gar nicht nervös sein.

"Das wäre natürlich nicht schlimm." Ich versuche meine Unsicherheit zu überspielen, was allerdings nicht sonderlich gut funktioniert.

Vinny merkt das und grinst mich an. "Na dann ist ja alles gut. Ich dachte schon du kannst mich nicht ausstehen."

Ich setze zu einer empörten Gegenrede an und höre erst auf, als Vinnys Gesichtsausdruck immer schelmischer wird und er in ein schallendes Gelächter ausbricht.

"Hör auf mich hinters Licht zu führen!" Ich stimme in sein Lachen mit ein und gebe ihm einen Klaps gegen die Schulter.

Wir beschließen einen kleinen Spaziergang zu machen, quasi als Ersatz fürs Joggen. Vinny berichtet mir von seiner Arbeit, und dass er angefangen hat einen Gemüsegarten anzulegen.

"Du hast einen grünen Daumen? Hätte ich niemals bei dir vermutet!"

"Warum nicht? Du hättest mal meine Balkonpflanzen während meiner Studienzeit sehen sollen! Mir ist in den Jahren keine einzige eingegangen! Ich rede auch immer mit ihnen, ich glaube das ist das Geheimnis..."

"Du redest mit ihnen?" Ich muss bei der Vorstellung von dem Blumenfreund Vinny lachen.

"Was gibt es da zu grinsen? Das ist doch ganz normal!"

Wir schlagen den Weg am Wasser ein und drehen eine große Runde von der Altstadt in die Neustadt. Auf dem Marktplatz verabschieden wir uns voneinander. "Das nächste mal dann wieder Training?", frage ich.

"Du kannst es einfach nicht lassen, oder?" Vinny lächelt und drückt mich zur Verabschiedung.


Ich verlasse die Fähre und sehe zu Shiranis Haus hinüber. Die Rollläden sind oben und soweit ich es erkennen kann, steht ein Fenster offen. Ich beschließe mein Glück zu versuchen und schlage den Weg nach links ein. Als ich näher komme, erkenne ich Shirani, die hinter dem Haus im Whirlpool entspannt. Ich bleibe an der Gartenmauer stehen und mache mich mit einem Hallo bemerkbar.

"Joelle! Was für eine Überraschung!" Sie tritt an den Zaun. "Komm rum, die Tür vorne ist offen!"

Wir setzen uns auf die Terrasse und Shirani holt uns etwas zu trinken. Sie trägt kein Make-up, was mich im ersten Moment irritiert. Ich glaube, ich habe sie noch nie ungeschminkt gesehen, noch nicht einmal auf unserer Klassenfahrt ins Zeltlager.

"Du warst in San Myshuno, oder?"

Ich nicke und berichte ihr kurz das gleiche, das ich auch schon Kira aufgetischt habe.

Dann räuspere ich mich. "Shirani, ich muss dich unbedingt etwas fragen."

"Schieß los!" Sie trinkt einen großen Schluck und stellt das Glas dann vor sich auf den Tisch.

"Seit ich bei Dan und Kira eingezogen bin, muss ich jeden Abend an Clara denken. Die Nähe zum Strand erinnert mich so sehr an sie. Ich muss immer an die Nacht damals denken."

Shirani verzieht keine Miene und hört mir aufmerksam zu.

"Und da habe ich mich gefragt, wer sie damals eigentlich zuletzt gesprochen hat. Ich mache mir immer wieder Vorwürfe, dass sie keiner nach oben begleitet hat. Sie war ja offensichtlich betrunken und ist in der Dunkelheit gestürzt."

"Ach Schätzchen... Jaja, diese Sache lässt wohl keinen von uns richtig los." Shirani sieh mich voller Mitleid an.

"Was weißt du denn noch von der Nacht? Ich meine, wir haben alle viel getrunken, aber an einiges kann ich mich noch erinnern. Wie steht es mit dir?", frage ich.

Shirani seufzt. "Es war eben ein typischer Partyabend. Nur waren wir vielleicht etwas ausgelassener als sonst, weil wir die Prüfungen geschafft hatten. Ich kam zusammen mit Kira am Strand an, da hatten die Kerle schon ordentlich einen sitzen."

"Weißt du auch noch wie wir um das Feuer getanzt sind? Wie die Indianer!" Shirani lacht leise.

"Ich musste dann irgendwann auf Toilette und bin nach oben ins Haus. Dort bin ich dann auf Dan getroffen, er wollte Getränkenachschub holen, hat aber nichts mehr gefunden."

"Ich bin dann ins Bad und plötzlich hörte ich von weiter weg Rufe. Ich bin dann raus und zusammen mit Dan runter zum Strand."

"Da standen alle am Wasser, es war schrecklich..."

"Irgendwann kam dann Kira, keine Ahnung wo sie vorher steckte. Ich musste ihr dann sagen was passiert war."

"Sie war oben im Haus, völlig betrunken. Ich hatte sie ins Gästezimmer gebracht."

Shirani sieht mich erstaunt an. "Ach wirklich? Ich wusste gar nicht, dass sie im Haus war."

Wir schweigen kurz. Dann frage ich: "Hattest du mit Clara an dem Abend viel zu tun gehabt? Ich habe nämlich, soweit ich weiß, an diesem Abend gar nicht mit ihr gesprochen."

Shirani setzt ein leichtes Grinsen auf. "Naja, du hattest ja auch mit einem gewissen Rotschopf zu tun."

Auf meine Frage antwortet sie nicht, deshalb versuche ich es nochmal anders. "Ich kann mich erinnern, dass die Stimmung zwischen euch beiden in den Wochen vor der Party schon nicht so gut war. An dem Abend habt ihr euch gestritten, oder?"

"Ach weißt du..." Shirani seufzt. "Wir waren damals alle jung und voller bescheuerter Hormone. Clara und ich kamen nicht auf eine Wellenlänge. Sie wollte was von Tommy, ich wollte was von Tommy. Sie war nur auf einen Flirt aus, ich wollte was Festes. Sie hatte sich an dem Abend mal wieder an Tommy rangemacht."

"Ich war damals sehr eifersüchtig, das weißt du doch. Sie wusste außerdem, dass ich auf Tommy stand, und zwar schon bevor sie zu uns in die Klasse kam. Ich hab sie an dem Abend beiseite genommen und sie gebeten, Tommy in Ruhe zu lassen."

"Sie hat dann klein beigegeben uns ist davon gezogen. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe."

Erschüttert sehe ich Shirani an. "Und geht es dir gut damit? Ich meine, das letzte was sie vermutlich vor ihrem Tod gemacht hat, war mit dir zu streiten!"

Shirani zuckt mit den Schultern. "Natürlich ist das schrecklich. Aber mit den Jahren habe ich gelernt damit umzugehen. Ich kann es nicht mehr ändern!"

"Ja, ändern lässt sich das in der Tat nicht mehr..."

Shirani legt eine Hand auf meinen Arm. "Lass dich davon nicht so runterziehen! Ich habe mich vielleicht mit Clara nicht sonderlich gut verstanden, aber wenn ich eines weiß, dann, dass sie nicht wollen würde, dass du noch 10 Jahre nach ihrem Tod in Trübsal verfällst, wenn du den Strand anschaust. Sie hat das Meer geliebt, das weiß ich. Sie wollte reisen und in allen Meeren der Welt schwimmen gehen. Also denke lieber im Positiven an sie, wenn du unser Meer betrachtest. Es hätte an diesem Abend jeden von uns treffen können. Mich, dich, einfach jeden. Was geschehen ist, ist geschehen. Wir sind jetzt machtlos."

Ich lächele matt und danke Shirani für ihre Zeit. Dann verabschieden wir uns.

Beim Rausgehen ruft Shirani mir hinterher: "Melde dich immer bei mir, wenn du reden willst. Ich bin durch diese Zeit schon durch. Ich helfe dir gerne."