Kapitel 18: Flimmern


"Du hast sooooooooo schöne Augen!"

Kira steht vor mir, schneidet eine Grimasse und reckt mir ihren Zeigefinger entgegen.

"Ja ja, danke. Komm, du musst dich hinlegen!" Ich schiebe ihre Hand aus meinem Gesicht und versuche Kiras zarten Körper in Richtung Bett zu bewegen. Doch das ist schwerer als gedacht. Es scheint, als habe der Alkohol ihr übermenschliche Kräfte verliehen. Sie steht da wie ein Baum.

"Jetzt komm schon. Du bist total hinüber! Eben konntest du dich kaum noch auf den Beinen halten. Ab ins Bett mit dir."

"Nein! Ich will wieder runter zum Strand!" Kira stampft auf den Boden wie ein kleines Kind und zieht eine Schnute.

Ich seufze. "Die Party ist vorbei. Es sind schon alle gegangen."

Meine Lüge scheint Kira zu verunsichern. "Wirklich?"

"Ja, wir sind die letzten. Nun leg dich hin."

Kira sieht sich um. "Das ist aber nicht mein Zimmer!"

Ich nutze aus, dass sie abgelenkt ist und ziehe sie zum Bett. Mit einem sanften Schubs kann ich sie auf die Matratze befördern.

"Du bist im Haus von Dans Familie. Das ist das Gästezimmer. Du darfst hier schlafen." Ich höre mich an wie eine Mutter, die ihrem Kleinkind die Welt erklärt.

Kira versucht wieder hochzukommen, scheitert aber kläglich. "Ich will hier aber nicht alleine schlafen."

Ich nicke ihr beruhigend zu. "Ich hole dir ein Glas Wasser und bin gleich wieder da. Ich bleibe bei dir, okay?"

Kira nickt und dreht sich auf die Seite. "Okay, aber komm wieder, ja?!"

Ich laufe durch das stille Haus in die Küche und fülle ein Glas mit Leitungswasser. Zurück im Zimmer ist kein Laut mehr  zu hören. Leise stelle ich das Glas auf dem Nachttisch ab und warte. Kiras Augen sind geschlossen, ihre Atmung ist gleichmäßig. Erleichtert verlasse ich das Haus und laufe wieder hinunter zum Strand...

Mit einem Ruck richte ich mich im Bett auf. Mein Herz schlägt schnell. Ein Blick auf den Wecker verrät mir, dass es 8 Uhr morgens ist. Für einen kurzen Moment wird mir ganz heiß, weil ich glaube verschlafen zu haben, aber dann fällt mir ein, dass heute Sonntag ist.

Ich schlage die Decke zurück, reiße die Gardinen auf und trete auf den Balkon. Die Meeresluft kühlt meine Haut und ich versuche meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Das war kein Traum. Es fühlte sich alles so echt an. Als hätte ich es gerade in diesem Moment erlebt. Als wäre ich wieder 18 Jahre alt und auf dieser verdammten Party.

Das Haupthaus liegt still vor mir. Der Strand ist von hier aus nicht zu sehen, aber ich kann ihn mir lebhaft vorstellen. 10 Jahre ist es her, dass ich die betrunkene Kira nach oben ins Haus brachte. Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch so gute Erinnerungen daran habe.

Mit einem Ruck drehe ich mich um und gehe wieder nach drinnen. Nach einer warmen Dusche und frischen Klamotten fühlt sich der Tag schon besser an. Ich möchte keinen Gedanken mehr an diese alte Erinnerung verschwenden und überlege, wie ich mich am besten ablenken könnte. Hauptsache ich bin so weit es geht vom Strand entfernt.

Einen Anruf und zwei Stunden später stehe ich vor dem GreenLeaf und warte auf Vinny. Ich muss keine Minute warten, da kommt er schon auf mich zu gejoggt.

"Dass du so spontan bist, hätte ich dir gar nicht zugetraut", begrüße ich ihn mit einem Augenzwinkern.

"Wenn Joelle anruft, ist Vinny zur Stelle. Ist doch klar!"

"Redest du da gerade von uns in der dritten Person?" Ich gebe ihm einen Klaps auf den Oberarm.

Schelmisch grinsend folgt er mir ins Café. Wir finden einen Platz am Fenster und setzen uns.

"Wie war dein Wochenende bisher?", frage ich, während wir einen Blick in die Karte werfen.

"Oh, ich habe dir doch von dem Auftrag in Oasis Springs erzählt, oder? Die Hochzeit war gestern."

"Hattest du da nicht vor ein paar Wochen die Fotos vom Brautpaar gemacht?"

"Genau. Sie haben mich dann auch für die Hochzeit gebucht. Das war eine riesige Feier, sag ich dir! Bestimmt 200 Gäste!"

Ich schaue überrascht auf. "Nicht dein Ernst! Wer kennt denn bitte soviele Leute?"

Vinny lacht. "Also auf meiner Hochzeit würde ich bestimmt auch so viele zusammen bekommen." Er kneift die Augen zusammen und überlegt. "Warte mal... Meine alten Schulfreunde, meine Kommilitonen aus der Uni... Alte Arbeitskollegen, oh, meine Freunde vom Sport... Dann natürlich meine Familie, das sind auch schon einige. Und dann kannst du diese Zahl mindestens mal zwei nehmen, weil jeder noch seinen Partner oder Kinder mitbringt." Er reckt triumphierend einen Zeigefinger in die Luft. "Ich komme auf mindestens 150 Personen! Wie sieht es bei dir aus?"

Ich starre ihn perplex an und bin froh, als der Kellner an unseren Tisch getreten kommt, um die Bestellung aufzunehmen.

"Ich glaube gar nicht, dass ich so groß feiern wollen würde...", nehme ich unser Gespräch wieder auf, nachdem wir bestellt haben. "Kleine Feiern können doch auch schön sein."

"Ja, ja." Vinny winkt ab. "Ich meine ja nur, ich könnte auch so eine große Feier schmeißen. Wenn ich wollte. Aber eine kleine Feier ist natürlich viel schöner."

"Na dann sind wir ja einer Meinung. Was schaust du mich so an? Hab ich irgendetwas im Gesicht?" Unsicher streiche ich  mir eine Strähne hinter die Ohren.

"Nein, nein!" Vinny wird rot. "Es ist nichts. Du bist..."

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. "Ja? Was denn?"

Bevor Vinny antworten kann, kommt unser Essen. Diesmal bin ich nicht froh über die Unterbrechung. Was wollte er mir sagen?

Ich hake aber nicht weiter nach, denn Vinny stürzt sich wie immer mit einer kindlichen Freude aufs Essen.

"Mmh, vorzüglich!" Mit vollem Mund lächelt er mich an. "Hier sollten wir öfter hingehen. Das ist ja zum Reinlegen!"

Auch ich genieße meine Pancakes. "Was hast du heute denn noch vor?"

Vinny schluckt einen großen Bissen hinunter. "Nichts weiter. Ich wollte heute noch was im Garten machen. Aber das hat Zeit. Wieso?"

"Naja, ich hab auch nichts groß geplant. Wollen wir was zusammen unternehmen?"

Vinny strahlt. "Na klar! Hast du deswegen gesagt, ich soll Badekleidung mitbringen?"

Ich nicke. "Ich dachte an Schwimmen. Warst du schonmal im Neustädter Freibad?"

"Nein, noch nicht. Klingt gut!"

Ich nicke erleichtert. "Okay, super! Nach diesen Pancakes können wir auf jeden Fall ein bisschen Sport vertragen!"


Das Freibad kenne ich noch aus meiner Zeit in der Grundschule. Seitdem hat sich hier einiges getan, bis auf die Anordnung von Wasserbecken und Umkleideräumen sieht alles verändert aus. Vinny und ich stürzen uns als erstes ins kühle Nass und schwimmen eine Weile auf den Bahnen um die Wette. Nach einem 3:1 für Vinny gehen wir es etwas langsamer an und lassen uns im Wasser treiben.

"Deine Eltern leben an der Belladonna Bucht, oder?", fragt Vinny und wechselt von der Bauch- in die Rückenlage.

"Ja, warum?"

"Das muss toll sein, dort zu leben. Es ist immer warm und man kann jeden Tag schwimmen gehen." Er lächelt mir zu.

"Ja, stimmt. Aber ich würde die Hitze dort auf Dauer nicht aushalten. Deine Eltern leben in Newcrest, oder?"

Vinny nickt. "Ziemlich unspektakulär dort. Sie wollen, dass ich sie öfter besuchen komme. Aber da ist echt nichts los und meine Freunde wohnen auch alle woanders. Hast du auch so einen Hunger?"

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. "Schon wieder? Also mir liegen die Pancakes immer noch schwer im Magen." Ich muss bei seinem wehleidigen Anblick lachen und gebe nach. "Okay, lass uns drüben bei dem Bistro was zu Essen für dich besorgen."

Wir verlassen das Wasser und schlendern dann zum Imbiss hinüber. Vinny holt sich ein Würstchen und wir machen es uns an einem der Tische bequem.

"Willst du wirklich nichts abhaben?" Vinny hält mir das Würstchen vor die Nase. Ich grinse uns beiße zu.

"Na bitte. Wusste ich doch, dass du nicht wirst widerstehen können."

Im Augenwinkel registriere ich eine Person, die abrupt vor uns stehen geblieben ist. Als ich aufsehe, macht mein Herz einen Sprung.

"Leo!"

Leo steht da und starrt uns dann. Er schluckt schwer, dann wendet er den Blick von uns ab und läuft weiter. Ich springe auf und laufe ihm hinterher. Vinny bleibt verdutzt zurück.

"Leo, warte bitte!"

Ich hole ihn ein und berühre ihn an der Schulter, damit er stehen bleibt. "Hey, ich bin froh dich zu sehen. Alles okay?"

Leo starrt mich an. "Ob alles okay ist?" Er wirft einen Blick zurück an unseren Tisch.

Ich stutze. "Ja... Ich habe in den letzten Wochen oft an dich gedacht. Du hast dich ja nicht mehr bei mir gemeldet und auch nicht auf meine SMS reagiert."

Ich warte seine Reaktion ab. Nach ein paar Sekunden antwortet er: "Hättest mir ja sagen können, dass da jemand anderes ist."

"Was meinst du?"

Leo macht eine Kopfbewegung Richtung Vinny. "Na was wohl? Oder ist das noch ganz frisch?"

"Da ist nichts..." Ich wische ungeduldig mit der Hand durch die Luft. "Ich brauche dich als Freund, Leo. Lass uns doch mal zusammen was trinken gehen, was meinst du?"

Er kneift die Augen zusammen. "Ich glaube du hast schon einen ganz guten Ersatz gefunden." Dann lässt er mich stehen und läuft davon.

Geknickt laufe ich zurück zu Vinny.

"Wer war das?", fragt der und mustert mich besorgt.

"Das war Leo, ein alter Freund von mir. Es ist gerade schwierig zwischen uns", murmele ich und streiche  gedankenverloren über den Tisch.

Vinny berührt mich kurz am Oberarm. "Wenn ich irgendwie helfen kann, sag Bescheid, ja?!"

Ich nicke, auch wenn ich weiß, dass Vinny der letzte ist, der in dieser Situation hilfreich sein würde.

"Na komm. Ich glaub, ich weiß wie ich dich aufmuntern kann!" Vinny steht auf und wir gehen uns umziehen.

"Ich zeige dir jetzt meinen Lieblingsplatz in Windenburg." Vinny legt einen Arm um meine Schulter. "Wenn ich mal schlecht drauf bin - dort bekomme ich immer gute Laune!"

Es dämmert bereits und wir laufen schweigend durch die Neustadt, hinaus ins Grüne. Meine Gedanken drehen sich immer noch um Leo, aber ich versuche sie beiseitezuschieben. Vinny gibt sich wirklich Mühe mich aufzumuntern und das freut mich.

"Wohnst du hier nicht in der Nähe?", frage ich, als wir an einen kleinen Fluss kommen.

"Richtig erkannt! Und hier kommt auch gleich meine Lieblingsstelle."

"Da sind wir!" Er breitet die Arme aus und grinst. Ich merke wie sich auch auf meinem Gesicht ein Strahlen breit macht.

"Vinny! Das ist wunderschön hier!" Ein kleiner Wasserfall bringt den Fluss zum Rauschen. Davon abgesehen ist es still, keine Menschenseele ist außer uns zu sehen. Und das, obwohl gar nicht weit entfernt ganze Häuserreihen liegen.

"Dieser Ort ist perfekt", flüstere ich und sehe zu Vinny hinüber.

"Das finde ich auch", erwidert er und beugt sich zu mir herüber.