Kapitel 26: Déjà-vu


Ein leises Vibrieren lässt mich hochschrecken. Im ersten Moment weiß ich nicht, wo ich bin. Mein Blick fällt auf das zerknautschte Sofakissen und wandert dann die schmale Küchenzeile entlang, an deren Ende mein Handy mit aufleuchtendem Bildschirm vor sich hin summt. Erschrocken werfe ich einen Blick nach draußen. Es ist hell. Viel zu hell! Mit zwei großen Schritten erreiche ich mein Handy.

„Joelle, wo bist du?“ Es ist meine Kollegin Maja. „Thom dreht schon durch, weil du dich nicht abgemeldet hast.“
„Ähm, ja… Ich… Wie spät ist es?“
Eine kurze Pause am anderen Ende der Leitung. „Hast du etwa verschlafen? Es ist halb elf und das ist bestimmt das zehnte Mal, dass ich versuche dich zu erreichen. Ich war schon kurz davor ein Sondereinsatzkommando auf die Suche nach dir zu schicken.“
„Nein, nein…also ja. Ich habe verschlafen. Aber ich bin jetzt schon so gut wie auf dem Weg“, antworte ich und hechte nach oben, um meine Tasche zu holen.
„Na dann bis gleich. Was soll ich Thom sagen?“
„Die Wahrheit. Er kriegt es doch so oder so raus.“
Ich kann quasi hören wie Maja seufzt. „Da hast du Recht.“
Ich lege auf, stecke das Handy ein und schlüpfe schnell in frische Klamotten. Die nächste Fähre kommt in acht Minuten. Eigentlich nicht zu schaffen, aber die Alternative wäre, noch eine Stunde später im Präsidium anzukommen. Draußen scheint die Sonne so hell, dass ich auf dem Weg zum Tor die Augen zusammenkneifen muss. Außerdem regnet es, aber ich will nicht noch mehr Zeit verlieren, nur um einen Regenschirm zu holen.

Ich sprinte los und erreiche die Fährstation in einer Rekordzeit von 5 Minuten und 58 Sekunden. Der Fährmann sieht mich schon von weitem und wartet glücklicherweise. Erschöpft lasse ich mich auf einer der Bänke nieder und atme erst einmal tief durch.
Erst jetzt fällt mir wieder die Liste ein. Ich hatte sie gestern Abend doch unter das Sofakissen gelegt, oder? Plötzlich kommt mir meine gestrige Aktion seltsam unwirklich vor. Hab ich das ganze vielleicht nur geträumt? Ich meine, wer bricht denn bitte bei seinen Freunden ein? In diesem Moment vibriert mein Handy. Bitte nicht Thom, denke ich nur und krame es aus der Tasche. Es ist eine SMS von Leo.
„Sehr gut! Treffen wir uns nach deinem Feierabend? Leo“

Im ersten Moment weiß ich nicht was er meint, dann fällt mir meine SMS von gestern Abend wieder ein, in der ich ihn kurz über meinen Fund informierte. Also doch nicht geträumt. Die Anlegestelle in der Altstadt ist schon zu sehen, also tippe ich schnell eine Antwort.
„Unwahrscheinlich, dass ich heute pünktlich Schluss machen kann. Ich melde mich bei dir, wenn ich mehr weiß. J.“

 

Im Präsidium versuche ich mich so unauffällig wie möglich zu meinem Schreibtisch zu stehlen. Thom ist nirgendwo zu sehen und so kann ich mich klammheimlich an die Arbeit machen. Ich lasse die Mittagspause aus und arbeite gewissenhaft den Aktenstapel ab, der sich neben meinem Schreibtisch türmt. Das ist eine gute Ablenkung, denn an die gestrige Nacht mag ich nicht denken.

Doch ganz gelingt es mir nicht, die Geschehnisse zu verdrängen. Diese Liste. Sie geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Ich kann es kaum erwarten nachher mit Leo darüber zu reden.


Und so beeile ich mich nach der Arbeit, nach Hause zu kommen. Ich esse eine Kleinigkeit, springe schnell unter die Dusche und schreibe Leo eine kurze Nachricht. Seine Antwort kommt prompt, er will sich im Irish Pub treffen. Ich schnappe mir die Liste, die immer noch unter dem Sofakissen liegt und mache mich wieder auf den Weg zur Fährstation.

Zwanzig Minuten später stehe ich vor dem Pub. Da ich Leo nirgends entdecken kann, gehe ich hinein und sehe mich drinnen um. Im hinteren Teil, an der Bar, sitzt Leo… und neben ihm Vinny. Die rote Beleuchtung lässt ihre Haare noch knalliger aussehen. Mir kommt die ganze Szenerie seltsam unwirklich vor.

Leo hat mich entdeckt. „Hey, Joelle! Hier sind wir!“ Er winkt mich herüber.
„Ich dachte wir treffen uns zu zweit?“, flüstere ich, als ich Leo begrüße.
Er ignoriert meine Bemerkung und wirft mir nur einen bittenden Blick zu. Ich nicke Vinny kurz zu und sehe mich um. „Wollen wir uns nicht lieber da rüber setzen? An der Bar sind mir zu viele Leute.“
Die Jungs stimmen mir zu und so ziehen wir uns in die hinterste Ecke des Pubs zurück.

„Erzähl, wie war’s?“, fragt Leo, nachdem wir die Getränke bestellt haben.
„Komisch.“ Ich sehe die beiden nicht an. „Dan und Kira sind immerhin meine Freunde und bei ihnen einzubrechen fühlte sich nicht richtig an. Außerdem bin ich Polizistin und…“
„Das sind nicht deine Freunde!“, zischt Vinny. „Sind sie nicht, glaub mir. An Dans Firma ist irgendetwas faul und das hat unmittelbar mit Claras Tod zu tun.“

„Das weißt du doch gar nicht!“, flüstere ich wütend.
„Ich dachte du wärst auf meiner Seite. Ich dachte, du willst auch herausbekommen, was damals passiert ist?“ Vinnys Stimme wird lauter.
„Natürlich will ich das! Ich hab es doch auch gemacht, ich bin da -“, ich senke meine Stimme wieder, „- eingebrochen. Aber auch nur, weil ich keine bessere Idee hatte.“

„Okay, wir kommen jetzt alle mal wieder runter, okay?“ Leo hebt beschwichtigend eine Hand. „Wir müssen jetzt zusammenarbeiten.“
Ich lache auf und schüttele den Kopf.
„Was ist?“ Leo runzelt die Stirn.
„Da ist nur alles so absurd. Vor 48 Stunden hätte ich nicht mal im Traum daran gedacht, dass ich mal mit euch beiden zusammen an einem Tisch sitze.“  
Leo und Vinny sagen nichts. Um die peinliche Stille zu unterbrechen, hole ich die Liste hervor.

„Hier, das habe ich gefunden.“
„Lass mal sehen.“ Vinny zieht sie zu sich herüber. „Adressen und Zahlen, so wie Clara es in ihrem Tagebuch beschrieben hat.“
Leo beugt sich vor, um auch etwas sehen zu können. „Jetzt müssen wir nur noch herauskriegen, was die Zahlen bedeuten.“
Vinny sieht auf. „Okay, ich schlage vor, dass du die Liste deinem Vater zeigst, Leo. Das hatte Clara ja auch vor.“ Er holt sein Handy hervor. „Ich mache ein Foto von der Liste und fahre mal die Adressen ab. Vielleicht fällt mir bei den Häusern ja irgendwas auf.“
Ich überlege. „Gut. Ich könnte versuchen die Adressen auf dem Präsidium durch unsere Datenbank zu jagen. Vielleicht stehen die Adressen mit Verbrechen in Verbindung.“
„Sehr gut.“ Vinny nickt. „Das ist doch schon mal ein Anfang. Wir werden schon noch dahinter kommen, was es mit dieser Liste auf sich hat. Aber seid vorsichtig!“
Ich hole mein Handy hervor, fotografiere die Liste und schiebe sie dann zu Leo hinüber, der sie einmal faltet und in seine Jackeninnentasche steckt.


Es ist kurz vor Mitternacht, als ich wieder Zuhause ankomme. Der weitläufige Vorgarten ist spärlich beleuchtet, im Haupthaus brennt kein Licht. Ich schlage den Weg zu meinem Haus ein, als ich jemanden rufe höre.
„Joelle! Hey!“
Ich drehe mich um. Die Stimme kam vom Haupthaus.

„Hey, hier bin ich! Hier oben!“
Ich sehe hoch und entdecke Kira auf einer der Terrassen. Sie winkt mir stürmisch zu.
„Ich habe auf dich gewartet!“
Ich winke zurück. Kira kommt mir komisch vor. Sie würde normalerweise niemals so einen Krach veranstalten, wenn die Kinder schlafen.
Ich gehe zum Haupthaus und die Treppe hinauf in den ersten Stock. Kira sitzt auf der Terrasse, vor ihr stehen eine leere Weinflasche sowie ein Glas mit Rotwein.

„Da bist du ja endlich. Ich hab auf dich gewartet.“
„Hey, alles okay?“ Ich setze mich zu ihr.
„Ja, ja, alles okay.“ Kira trinkt einen Schluck und schaut mich lächelnd an. „Schön, dass du da bist. Wirklich schön.“
„Wo ist Dan?“ Ich sehe mich um.
„Ach, der ist noch im Büro.“
„Um diese Zeit?“, frage ich.
Kira winkt ab. „Ja, ja.“
Ich mustere erst sie, dann die Weinflasche. „Hast du das alles allein getrunken?“
Kira schaut mich verdutzt an. „Was? Achso… weiß nicht.“

Ich will etwas sagen, aber Kira fällt mir ins Wort.
„Freundschaft“, murmelt sie. „Freundschaft ist so wichtig, Joelle.“ Sie lächelt mich wieder an. „Wir müssen immer zusammenhalten, oder? Das ist wichtig, oder?“
„Ja, natürlich.“ Ich nehme ihr das Weinglas aus der Hand. „Sind die Kinder im Bett?“
Kira runzelt die Stirn. „Die Kinder? Natürlich! Was denkst du denn?“ Sie lacht. „Die Kinder… sind immer an erster Stelle. An erster Stelle! Und dann kommen die Freunde, oder etwa nicht?“
Ich seufze. Das letzte Mal, dass ich Kira so betrunken gesehen habe, war… Mir wird schlecht. Die Bilder von der verhängnisvollen Partynacht kommen hoch.

Ich räuspere mich. „Es ist schon spät und ich muss morgen früh raus.“
Kira lacht. „Ach was! Komm, trink mit mir noch einen Schluck!“ Sie greift nach der Weinflasche und merkt, dass sie leer ist. „Oh.“
„Los, ich bringe dich ins Bett.“ Ich stehe auf und reiche ihr die Hand. Kira steht auf, wankt leicht und greift lachend nach meinem Arm.
„Huiuiui.“

Zusammen gehen wir rein, auf dem Weg nach unten stützt sie sich an mir ab.
„Komm.“ Ich schiebe sie ins Schlafzimmer und schalte das Licht an. Kira setzt sich aufs Bett und fällt sofort zur Seite.
„Bleib hier, ja?“ Murmelt sie, die Augen geschlossen. „Bleib bitte hier, Joelle.“
Das Déjà-vu kommt urplötzlich und nimmt mir den Atem. Ich versichere mich, dass Kira schläft, dann verschwinde ich so schnell es geht aus dem Haus.