Kapitel 27: Sonnenschein und Regen


In dieser Nacht schlafe ich schlecht. Ich bin froh, als es endlich hell wird und die Vögel zu singen anfangen. Auf die Arbeit habe ich nur wenig Lust, aber heute ist Freitag und am Wochenende habe ich zur Abwechslung mal frei. Ich stelle die Kaffeemaschine an und blicke aus dem Fenster hinüber zum Haupthaus. Wie Kira wohl geschlafen hat? Bei dem vielen Wein wahrscheinlich wie ein Baby. Die Frage ist viel eher, wie geht es ihr jetzt am Morgen danach?

Ich trinke meinen Kaffee und warte bis es sieben Uhr ist. Dann laufe ich durch zarten Morgennebel hinüber zum Haupthaus und öffne vorsichtig die Wohnungstür. Von oben höre ich Stimmen aus der Küche.

„Guten Morgen!“, rufe ich und steige die Treppe hoch.

„Joelle! Ach wie schön, dass du vorbeischaust.“ Dan setzt die Zwillingen in ihre Stühle am Tisch und ruft dann über seine Schulter hinweg: „Karl, pack dein Lunchpaket ein! In 15 Minuten fährt deine Fähre!“

Er sieht zu mir und kneift die Augen zusammen. „Gehst du heute später zur Arbeit? Dann könntest du vielleicht ein Auge auf die Zwillinge haben, bis Kira sich fertig gemacht hat? Ich muss jetzt nämlich eigentlich auch los ins Büro.“

Karl kommt aus dem Bad, greift sein Lunchpaket und verschwindet nach unten.

„Ich, äh…“ Unschlüssig stehe ich im Wohnzimmer.

Dan hebt beschwichtigend die Hände. „Kira kommt auch gleich, sie hat nur verschlafen. Das ist ihr noch nie passiert!“ Er läuft an mir vorbei zur Treppe, dort dreht er sich nochmal um. „Danke!“

Kurz darauf höre ich wie die Tür ins Schloss fällt und seufze. Die Zwillinge schauen mich aus ihren Kinderstühlen mit großen Augen an.

„Na, ihr zwei. Ich geh mal schauen wo eure Mama ist, ja?!“

Ich gehe nach unten und öffne langsam die Schlafzimmertür. „Kira?“, flüstere ich ins Halbdunkel.

Sie liegt im Bett, genauso wie ich sie gestern zurückgelassen habe. Ich trete an sie heran und berühre ihre Schulter. „Kira? Kira?! Dan ist gegangen und hat mich mit den Zwillingen allein gelassen.“

Bei meinen letzten Worten rührt sich Kira. „Wa- was?“ Sie richtet sich auf und schaut mich verwirrt an. „Was hast du gerade gesagt?“

„Die Zwillinge…“

Kira schwingt ihre Beine aus dem Bett und kommt schwankend zum Stehen. „Uuuh, mein Kopf. Das fühlt sich gar nicht gut an. Wie spät ist es überhaupt?“

„7:15 Uhr. Dan meinte, du hast verschlafen.“

Kira reibt sich die Augen und macht sich dann auf den Weg in die Küche. Ich folge ihr nach oben.

„Ja, er hat mich geweckt. Ich muss nochmal eingeschlafen sein.“

Während Kira die Zwillinge weiter versorgt, hole ich ihr ein Glas Wasser.

„Geht es dir sonst gut? Du warst gestern Abend ganz schön hinüber.“

Kira winkt ab. „Ach was, ich hab einfach ein Glas zu viel getrunken. Ich vertrage nicht mehr so viel wie früher.“ Sie lacht.

Früher hast du auch nicht gerade viel vertragen, denke ich, verkneife mir aber es laut auszusprechen.

Wir frühstücken noch zusammen, dann mache ich mich auf den Weg zur Arbeit.


Zwischen zwei Zeugenbefragungen habe ich etwas Zeit und gebe in unsere Datenbank einige Adressen von der Liste ein, die ich bei dem letzten Treffen mit Vinny und Leo abfotografiert und dann Leo überlassen habe. Keine einzige Adresse ergibt einen Treffer. Die Liste ist zu lang, um in der kurzen Zeit alle Anschriften zu überprüfen. Aber am Wochenende habe ich keine Schicht, sodass ich mich beeile so viele Adressen wie möglich durch die Datenbank zu jagen. Schließlich will ich beim nächsten Treffen mit Leo und Vinny am Sonntag über neue Erkenntnisse berichten können.

Am späten Nachmittag, kurz vor Feierabend, bekomme ich überraschend eine SMS von Vinny.

 

Ich bin schon einige Adressen abgefahren, keine Auffälligkeiten. Heute Abend nehme ich mir ein paar in der Altstadt vor. Willst du mitkommen? Ich könnte dich vom Präsidium abholen. LG Vinny

 

Ich starre auf mein Handy. Ein wilder Mix aus Gefühlen steigt in mir hoch. Da ist Wut – auf Vinnys verdammte Lügen – und Schmerz, weil er jetzt so tut, als wenn alles noch wie früher wäre. Da ist aber auch Trauer. Insgeheim keimt der Wunsch in mir auf, die letzten Tage einfach rückgängig zu machen: Vinnys neuen Job zu feiern, ohne das Bild von ihm und Clara zu finden. Dann nehmen Wut und Schmerz wieder Überhand und lassen meinen Herzschlag in die Höhe schnellen. Hätte er mir jemals von Clara erzählt? Hätte er mir irgendwann die Wahrheit gesagt?

Ohne zurückzuschreiben lasse ich das Handy wieder zurück in meine Hosentasche gleiten. Ich widme mich weiter dem Papierkram, kann mich aber nicht recht konzentrieren. Und so sehne ich den Feierabend regelrecht herbei, verlasse überpünktlich das Präsidium und erwische zur Abwechslung mal die 18-Uhr-Fähre.


Im Haupthaus brennt Licht und so beschließe ich kurz nach Kira zu sehen. Ich finde sie draußen auf der hinteren Terrasse. Karl sitzt neben ihr und macht konzentriert seine Hausaufgaben.

„Hallo Joelle!“, begrüßt sie mich und strahlt. „Wir wollen heute grillen, willst du mitessen?“

Ich setze mich zu den beiden. „Das klingt gut, gerne.“ Ich mustere sie unauffällig von der Seite, während sie mir ein Glas Limonade einschenkt. Sie sieht aus wie immer, keine Spur mehr von dem weinseligen Abend keine 24 Stunden zuvor.

„Wie war dein Tag?“, frage ich und trinke einen Schluck.

Kira lächelt und seufzt. „Eigentlich wie immer. Ich war vormittags mit den Zwillingen unten am Strand und hab eine Sandburg nach der anderen gebaut. Dann gab es zum Mittag Erbsenmatsch und Apfelmus. Während die Zwillinge Mittagsschlaf gehalten haben, habe ich aufgeräumt. Dann kam Karl und wir haben zusammen eine Tasse Kakao getrunken. Jetzt macht er seine Hausaufgaben und ich passe auf, dass er seine Bücher nicht wieder mit den Void-Karten verwechselt – stimmt’s Karl?“

Karl sieht auf und lächelt verlegen. „Das war nur einmal, Mama! Ich musste meine Karten sortieren, weil Anton aus der 4b mir seine überlassen hatte.“

Kira und ich wechseln amüsierte Blicke. „Ja, so sieht das bei mir aus. Und bei dir?“

Ich winke ab. „Nichts Besonderes. Viel Papierkram.“

Kira horcht auf. „War das gerade die Tür?“ Sie blickt mit zusammengekniffenen Augen auf die Uhr, die drinnen durch die Glastür nur schwer zu erkennen ist. „Das wird Dan sein. Ich bereite schon mal das Essen vor, er wird den Grill sicher gleich anschmeißen wollen.“

Ich folge ihr nach drinnen. Im Flur treffen wir tatsächlich auf Dan, der seine Frau flüchtig begrüßt und mir zunickt.

„Ich habe Joelle zum Essen eingeladen“, ruft Kira Dan zu, während sie die Treppe nach oben nimmt.

„Ah ja, schön“, erwidert Dan gedankenverloren und verschwindet in Richtung seines Büros.

Kira bleibt nochmal auf der Treppe stehen und winkt mir zu. „Bis später dann, ja?!“


Geduscht und mit frischen Klamotten erscheine ich kurz nach acht wieder auf der Terrasse. Es ist dunkel geworden und eine Böe lässt mich erschauern. Dan steht am Grill, während Kira den Tisch deckt.

„Wo sind die Kinder?“, frage ich und helfe ihr mit dem Besteck.

„Die Zwillinge schlafen schon. Karl sollte gleich kommen, er räumt noch sein Zimmer auf.“

Erleichtert stelle ich fest, dass wir auf der Terrasse etwas vom Wind geschützt sind. Der Frühling ist in diesem Jahr sehr wechselhaft. Ich sehne mich schon jetzt nach wärmeren Temperaturen.

Dan tritt an den Tisch und stellt einen Teller voller Würstchen ab. „Ich hole noch etwas zu trinken“, sagt er und verschwindet nach drinnen an die Bar.

„Hast du am Wochenende Dienst?“, fragt Kira und setzt sich.

Ich schüttele den Kopf. „Nein, zum Glück habe ich mal Zeit für mich.“

Sie lächelt. „Machst du was Schönes mit Vinny? Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen.“

Mein Magen krampft sich zusammen und ich bin froh, dass in diesem Moment Karl hinaus auf die Terrasse tritt. „Oh, Würstchen!“, ruft er freudig und setzt sich neben seine Mutter.

Doch Kira hat sich mir weiter zugewandt und erwartet eine Antwort.

„Ähm, ja. Mal sehen, ob wir was am Wochenende unternehmen. Er hat ja jetzt auch viel zu tun wegen seines neuen Jobs.“

Kira nickt aufgeregt. „Ja, Merlin hat uns davon erzählt! Toll, dass er Vinny engagiert hat. Da sieht man mal wieder: Beziehungen sind eben der beste Karriere-Booster.“

Während des Essens plaudern wir etwas über die Nachrichten, Dan erzählt ein paar Anekdoten aus dem Büro und Kira gibt den neuesten Klatsch und Tratsch aus Windenburg zum besten, den sie aufgeschnappt hat. Schließlich steht sie auf und klatscht in die Hände. „Jetzt aber ab ins Bett mit dir Karl. Es ist schon viel zu spät für dich!“

Karl verzieht das Gesicht. „Morgen ist Wochenende!“, mault er und sieht bittend zu Dan herüber. Doch der lächelnd ihn nur entschuldigend an. „Mach, was deine Mutter dir sagt.“

Während Kira und Karl im Haus verschwinden, helfe ich Dan beim Tisch abräumen.

„Wie läuft es bei dir und Vinny“, fragt er plötzlich und nimmt mir einen Stapel Teller ab.

„Gut“, lüge ich und sammele die Gläser ein, immer darauf bedacht möglichst unschuldig zu klingen.

„Schön. Merlin hat mir erzählt, dass er jetzt die Fotos für die neue Webseite des La Liz beisteuert. Er wird in nächster Zeit bestimmt viel zu tun haben.“

„Das stimmt. Aber es ist das, was er liebt. Und das ist doch das wichtigste.“ Ich folge Dan hinein nach oben in die Küche und fühle mich unwohl dabei, den beiden etwas vorzulügen. Irgendwann werden sie sowieso merken, dass Vinny und ich nicht mehr zusammen sind, denke ich. Nur den Grund dafür werde ich ihnen wohl noch eine Weile verheimlichen müssen. Um weiteren Fragen von Dan zu entkommen, gebe ich vor müde zu sein und verabschiede mich.


Der Samstag zieht sich elend lang dahin. Zur Abwechslung ist es immerhin mal sonnig und warm. Zwar genieße ich es auch, einen Tag lang einfach mal nichts zu tun, andererseits kann ich den Sonntag kaum erwarten, um zu erfahren, was Leo und Vinny herausgefunden haben. Und so vertreibe ich mir die Zeit mit Sonnenbaden auf dem Balkon und einem guten Buch.

Am Abend bekomme ich eine Nachricht von Leo.

 

Morgen 11 Uhr an der Südseite des Parks.

 

Zufrieden lege ich das Handy zur Seite und schließe die Augen. Die untergehende Sonne wärmt mein Gesicht. Bei unserem letzten Treffen hatten wir beschlossen uns etwas abseits der Innenstadt zu treffen, irgendwo draußen, wo viele Menschen sind. Der Park eignet sich perfekt, er ist weitläufig und befindet sich am Stadtrand. Hoffentlich haben die beiden etwas herausgefunden, das uns weiterbringt, denke ich, bevor ich in mein Bett wechsle und einschlafe.


Am nächsten Morgen stehe ich spät auf und mache mich nach einem schnellen Frühstück auf den Weg zur Fährstation. Die Fähre ist so gut wie leer, die meisten werden um diese Zeit wahrscheinlich noch ihr Sonntagsfrühstück genießen.

Um kurz vor 11 erreiche ich den Park. War es während der Fährfahrt noch sonnig, ziehen jetzt Wolken am Himmel auf und es wird sofort spürbar kühler. Um zur Südseite zu kommen, muss ich noch ein Stück laufen und beschleunige deshalb meinen Schritt. Ich finde Vinny unter einem Baum in der Nähe des Hauptweges. Bevor ich ihn erreiche, sehe ich Leo aus der anderen Richtung kommen und bin froh, nicht mit Vinny allein warten zu müssen.

Wir begrüßen uns und Leo deutet den Weg hinab. „Lasst uns hier langlaufen. Dort hinten sind glaube ich auch Bänke.“

„Was habt ihr rausgefunden?“, fragt Vinny sofort, nachdem wir uns in Bewegung gesetzt haben. Man merkt ihm seine Anspannung an.

Auch Leo sieht nun zu mir herüber. „Was hat eure Datenbank ausgespuckt?“

Ich zucke mit den Schultern. „Gar nichts. Alle Adressen haben keinen Treffer ergeben. Ich muss aber zugeben, dass ich nicht ganz durchgekommen bin. Ich mache Montag weiter.“

Vinny macht ein enttäuschtes Gesicht. „Hast du mit deinem Vater geredet, Leo?“

Leo nickt. „Er hat sich die Liste angesehen und hatte erst mal keine Idee, was die Zahlen hinter den Adressen bedeuten könnten. Er meinte dann auch, dass das kein offizielles Dokument ist, sondern wahrscheinlich einfach nur eine Übersicht, die sich ein Mitarbeiter mal angelegt hat für den persönlichen Gebrauch. Am Ende war er sich dann aber ziemlich sicher, dass die Zahlen Kundennummern oder so sind. Am wahrscheinlichsten ist, dass die Firma von Dans Vater damals den Bauprojekten interne Nummern gegeben hat. Und die Liste ist einfach eine Übersicht der Projekte.“

Vinny sagt nichts. Er schaut beim Gehen auf den Boden und runzelt die Stirn. Leo und ich wechseln kurz einen Blick.

„Was ist bei dir herausgekommen?“, fragt Leo nun vorsichtig Vinny.

Der bleibt abrupt stehen, sodass Leo und ich zwei Schritte zu ihm zurücklaufen müssen. „Was ist denn?“

Vinny sieht uns traurig an. „Nichts ist rausgekommen, rein gar nichts. Das sind alles stinknormale Häuser mit gepflegten Vorgärten und grauen Briefkästen. Das ist doch scheiße!“ Er tritt gegen einen kleinen Kieselstein auf dem Boden, der über den Weg hüpft und schließlich im Gras landet. „Jetzt sind wir wieder bei Null und nicht schlauer als vorher.“

Leo deutet auf ein paar Bänke keine zehn Meter von uns. „Lasst uns da mal hinsetzen.“

Vinny folgt uns widerwillig zu einigen Bänken mit Tischen auf dem Grillplatz.

In der Nähe isst eine Familie Burger und Leo senkt die Stimme. „Wir haben unser Bestes gegeben, um herauszufinden was es mit dieser Liste auf sich hat. So wie es jetzt aussieht, sehe ich nur zwei Möglichkeiten.“

Ich höre interessiert zu. „Und zwar welche?“

Leo wiegt leicht den Kopf hin und her. „Entweder wir haben die falsche Liste oder Clara hat da damals etwas reininterpretiert, was gar nicht stimmt.“

„Was meinst du?“ Vinny klingt wütend. „Ihr Tagebucheintrag dazu ist ja wohl eindeutig, oder?“

Leo schüttelt den Kopf. „Ich weiß nicht. Wir waren nicht dabei, vielleicht hat sie sich da reingesteigert…“

Vinny schnaubt verächtlich und blickt über den Rasen hinüber zum Basketballplatz, wo ein paar Kinder spielen.

„Und was schlägst du jetzt vor?“, frage ich. Es beginnt zu tröpfeln, aber wir lassen uns davon nicht stören.

Leo überlegt einen Moment. „Lasst uns den Abend damals nochmal durchspielen. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass wir auf einer falschen Fährte sind.“

„Okay“, sage ich und werfe Vinny einen Blick zu, der immer noch finster in die Ferne schaut. „Dan, Tommy und Merlin haben sich schon am frühen Abend getroffen, dann sind Kira, Shirani, Clara und wir beide dazugestoßen. Wir waren unten am Strand, haben viel getrunken und getanzt. Dann habe ich Kira nach oben ins Gästezimmer gebracht, weil sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Wir wissen von Tommy, dass Shirani und Clara sich gestritten haben. Shirani hat das auch zugegeben. Das war das letzte Mal, dass Clara unten am Strand gesehen wurde, sie ist dann nach oben gegangen Richtung Haus.“

Leo nickt. „Dan war zwischendurch mal oben Getränke holen und Shirani auf Toilette, richtig?“

„Genau, nachdem ich Kira ins Bett gebracht hatte, bin ich Dan auf dem Rückweg begegnet.“ Ich trommle mit den Fingerspitzen auf den Tisch vor uns. „Kira, Dan und Shirani“, murmele ich.

„Was?“ Leo sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Kira, Dan und Shirani“, wiederhole ich. „Die drei waren vermutlich oben, als auch Clara oben war. Kira habe ich selbst gesehen, genauso Dan. Aber Shirani…“ Ich rede nicht weiter. Ich will nicht weiterreden. Der Gedanke, dass Shirani Clara etwas angetan haben könnte, will einfach nicht in meinen Kopf.

Vinny horcht auf. „Shirani hat auch ein sehr starkes Motiv. Das zieht sich durch Claras ganzes Tagebuch, dieser Konflikt mit ihr. Sie war sehr eifersüchtig, oder?“

Leo nickt. „Sie wollte Tommy für sich allein haben.“ Er sieht mich durchdringend an. „Joelle, du musst nochmal mit ihr reden.“

Ich schlucke. „Mit Shirani?“ Alles in mir sträubt sich, aber insgeheim weiß ich, dass da kein Weg dran vorbeiführt. „Okay“, sage ich und schlucke. „Ich überleg mir was und gehe nächste Woche zu ihr.“

Vinny nickt langsam. „Gut. Hoffentlich sagt sie dir die Wahrheit. Ich will, dass es endlich vorbei ist.“

Ich verspreche den beiden mich nach dem Gespräch mit Shirani zu melden und wir stehen auf, um durch den Park zurück zum Hauptausgang zu schlendern.

Kurz bevor sich unsere Wege trennen, räuspert sich Vinny. „Kann ich dich noch einen Moment sprechen, Joelle?“

Ich zögere, nicke dann aber. Leo verabschiedet sich von uns und ich habe den Eindruck, dass sich seine Laune schlagartig verschlechtert hat bei Vinnys Worten.

Vinny wartet, bis Leo außer Hörweite ist, dann fragt er: „Wie geht es dir?“

„Ganz gut, denke ich.“

„Ich wollte mich nochmal bei dir entschuldigen. Es war nicht richtig, dich anzulügen. Ich…“

„Lass gut sein, Vinny. Ich will jetzt nicht darüber sprechen. Ich möchte dir gerne dabei helfen, Claras Tod aufzuklären. Denn ich hatte sie wirklich gern. Aber was du getan hast, kann ich nicht so schnell vergessen. Lass uns das jetzt zu Ende bringen und danach sehen wir weiter, okay?“

 „Okay, wie du meinst.“ Er zögert kurz. „Hast du es noch jemandem erzählt?“

Ich sehe ihn fragend an. „Was?“

„Dass ich Claras Bruder bin.“

„Was? Nein!“, rufe ich empört. „Was glaubst du denn? Natürlich nicht.“

„Gut.“ Er klingt erleichtert. „Und wissen deine Freunde, dass wir nicht mehr zusammen sind?“

Mein Magen zieht sich zusammen. „Nein“, antworte ich leise. „Noch nicht.“

Vinny sieht über meine Schulter hinweg und nickt. „Du hast es aber vor.“

Ich antworte nicht gleich. „Ja, vielleicht.“ Ich vermeide es, ihn anzusehen. Innerlich kämpfen Wut, Schmerz und Sehnsucht gegeneinander an.

„Naja, bis dann. Ich melde mich wie gesagt.“ Ich hebe eine Hand zum Gruß.

Vinny tut es mir nach. „Ja, bis dann.“ Seine Stimme klingt traurig.

Ich drehe mich um und laufe schnellen Schrittes Richtung Innenstadt. Erst auf der Fähre lässt der Schmerz in der Magengegend nach.