Kapitel 29: Dunst


„Hier ist es.“ Dan stoppt den Wagen vor einem kleinen Haus an einer Straßenecke. Wir steigen aus und ich hole meine Tasche und meinen Rucksack aus dem Kofferraum. Dan winkt mit einem Schlüsselbund, den wir eben noch aus dem Windenburger Büro von ImmoSul geholt haben. „Das ist jetzt erst mal deiner, nicht verlieren!“ Er lächelt und wirft mir den Schlüssel zu.

Es hat angefangen zu regnen und so beeilen wir uns auf dem Weg zur Haustür. Dan deutet nach vorn. „Wir haben das Haus in den letzten Monaten komplett renoviert und modernisiert. Komm, ich zeig dir alles.“

Ich schließe die Tür auf und wir treten ein.

„Wow, das ist ja richtig schick hier!“ Ich stelle meine Taschen neben dem Eingang ab und sehe mich im Wohnbereich um.

„Das ist das erste Objekt in Windenburg, das wir mit der Smart-Technologie ausgestattet haben. Alles lässt sich über das Smartphone oder Tablet steuern: die Temperaturen, Schließsysteme, Kommunikation – einfach alles!“ Dan strahlt. „Natürlich kannst du auch alles ganz herkömmlich regulieren.“ Er zieht einen Zettel aus der Innentasche seiner Jacke und reicht ihn mir. „Wenn du möchtest, kannst du die Funktionen gerne ausprobieren. Hier stehen die Zugangsdaten drauf. Das ist noch der Test-Account unserer Firma. Sobald die neuen Mieter drin sind, schalten wir den ab. Aber solange kannst du ihn gerne noch nutzen.“

Ich nicke und folge ihm in die Küche. „Danke, aber ich glaube ich bleibe beim Analogen. Nicht, dass ich noch was kaputt mache.“ Dan lacht, während ich ehrfürchtig die moderne Kücheneinrichtung mustere. „Sieht wirklich toll aus. Vielen Dank, dass ich hier übergangsweise unterkommen darf.“

Dan schaut auf die Uhr. „Kein Problem. Wir müssen dir danken, dass du so bereitwillig das Gästehaus aufgegeben hast. Mein Vater ist immer für eine Überraschung gut, das ist nicht einfach.“ Er lächelt schief. „Ich muss dann auch wieder los. Mein Vater möchte heute gleich einen Bürotag einlegen. Samstage gehören für ihn nicht zum Wochenende.“ Dan grinst gequält. „Wenn du Hilfe brauchst, ruf einfach an, ja?!“

„Alles klar, vielen Dank nochmal“, rufe ich ihm hinterher.

Die Tür fällt ins Schloss und ich seufze. Den Zettel mit den Zugangsdaten lege ich auf dem Couchtisch im Wohnbereich ab, dann drehe ich eine schnelle Runde durchs Haus. Oben entdecke ich zwei Kinderzimmer sowie ein Bad und das Schlafzimmer. Für mich allein ist das Haus natürlich viel zu groß, aber ich bin froh, dass Dans Vater für mich keine Bruchbude organisiert hat. In der Küche stöpsele ich erst mal den Kühlschrank ein. Wie auf Kommando beginnt mein Magen zu knurren. Ich werde wohl einkaufen gehen müssen. Eine gute Gelegenheit, das Viertel besser kennenzulernen. Schon in Dans Auto auf dem Weg hierher habe ich die Gegend kaum wiedererkannt. In den letzten zehn Jahren wurde hier offenbar so viel gebaut, dass ich mich erst wieder zurecht finden muss.

Ich stecke Schlüssel und Regenschirm ein und mache mich auf den Weg. Wir sind vorhin an einem kleinen Supermarkt vorbeigekommen, der zu Fuß in 15 Minuten zu erreichen sein müsste. Dunst liegt über der Stadt. Ich laufe die Straße hinunter und mustere meine Nachbarshäuser. Fast alle sehen wie aus dem Ei gepellt aus: glänzende weiße Fassaden, saubere Vorgärten, teure Autos vor der Tür. In meiner Erinnerung ist dieses Viertel von Alt-Windenburg ganz anders: alt, verfallen, düster.

Mein Telefon klingelt. Vinnys Name leuchtet auf dem Display auf und mein Herz macht einen schmerzhaften Sprung. Ich überlege erst, nicht abzuheben, entscheide mich dann aber anders.

„Hallo Joelle?“, höre ich seine Stimme, nachdem ich rangegangen bin, aber kein Wort über die Lippen bringe.

„Ja, ich bin dran. Was gibt’s?“

„Hast du schon mit Shirani gesprochen?“

Ich seufze und fasse in ein paar kurzen Sätzen die Erkenntnisse des letzten Tages zusammen, von dem Gespräch mit Shiranis Schwester bis hin zum Überraschungsbesuch von Dans Eltern und meinem spontanen Umzug.

„Okay, und wo bist du jetzt genau?“
Ich sehe mich um. „In einer Nebenstraße der Lindenallee.“
„Hey, das ist ja gar nicht so weit entfernt von mir. Du, ich habe Neuigkeiten, die etwas beunruhigend sind.“
„Was meinst du? Clara betreffend?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht.“ Vinny klingt unsicher.
„Soll ich vorbeikommen? Bist du gerade Zuhause?“
„Ja, das wäre toll. Ich sage am besten auch Leo Bescheid.“
„Gut, dann bis gleich. Ach, und noch etwas. Hast du was zu essen da?“


Auf dem Weg zu Vinnys Haus lasse ich mir extra viel Zeit, in der Hoffnung, dass Leo etwa zeitgleich mit mir ankommen wird. Ich verspüre wenig Lust, allein mit Vinny zu sein. So kommt es, dass Leo und Vinny mich schon ungeduldig erwarten, als ich endlich eintreffe.

„Hast du dich etwa verlaufen? Die Lindenallee ist keine zehn Minuten von hier“, fragt Vinny, als ich an ihm vorbei ins Wohnzimmer gehe und Leo begrüße.

„Tut mir Leid, die Straßen sehen alle ganz anders aus. Hier wurde so viel gebaut, dass ich mich nicht mehr auf meinen alten Orientierungssinn verlassen kann“, flunkere ich und lege meine Jacke ab.

„Also, was ist denn nun. Du wolltest am Telefon ja nicht mit der Sprache rausrücken“, fragt Leo und beugt sich interessiert vor.

Vinny setzt sich zu uns. „Okay. Ich habe gestern Abend zufällig einen alten Bekannten aus der Modebranche wiedergesehen. Ich hatte Schicht in der Bar und er war mit ein paar Kollegen da. Er hat mich wiedererkannt und wir haben ein bisschen geredet. Ich hab euch doch mal erzählt, dass ich damals, als Shirani mit dem Modeln angefangen hat, der Assistent des Fotografen bei ihrem ersten großen Shooting war. Mein Bekannter war damals dieser Fotograf. Ich habe ihm erzählt, dass ich Shirani noch ab und zu mal sehe, seit ich hier wohne, sie aber auch viel verreist ist und viele Jobs auch außerhalb von Windenburg hat. Und da hat er mich angeguckt, als hätte ich gerade gesagt die Social Rabbits wären in die zweite Liga abgestiegen.“

„Bitte was? Da komme ich nicht mehr mit.“
Leo wirft mir einen Seitenblick zu. „Die Social Rabbits haben die letzten drei Jahre den Pokal geholt.“
„Anders gesagt“, fügt Vinny hinzu, „konnte er nicht glauben, was ich da erzähle!“
„Warum?“, frage ich überrascht.
Vinny atmet einmal tief durch. „Weil er weiß, dass Shirani gar nicht mehr so viel modelt. Er ist in der Modewelt gut vernetzt, glaubt mir. Wenn er sagt, Shirani hat kaum Jobs, dann hat sie kaum Jobs.“
„Sie lügt uns also an“, sagt Leo. Es ist eher eine Feststellung als eine Frage.
Vinny nickt. „Genau. Und wenn sie über ihren Job lügt, wer weiß was sie sonst noch alles verschweigt.“

Die beiden schauen nun mich an. Ich runzele die Stirn und schüttele nachdenklich den Kopf. „Die Frage ist doch viel eher: Warum lügt sie?“
Leo winkt ab. „Du weißt doch, Shirani war ihr Ruf schon immer wichtiger als alles andere auf der Welt.“
„Du meinst, was ihre Familie und Freunde über sie denken. Ja, das stimmt“, nicke ich. Dann erinnere ich mich an das Gespräch mit Shiranis Schwester. „Moment mal! Sharon hat mir erzählt, dass Shirani das Studium ihrer drei Schwestern finanziell unterstützt. Und sie will ihrem Vater eine Wohnung kaufen. Wie macht sie das, wenn es jobtechnisch doch nicht so gut läuft?“
„Und sie ist vor nicht allzu langer Zeit in das Haus auf der Insel gezogen. Die Preise dort sind nicht ohne“, fügt Vinny nachdenklich hinzu.

Leo zuckt mit den Schultern. „Dann hat sie wahrscheinlich einen anderen Job.“
„Ja, aber warum um Himmels Willen verheimlicht sie den vor uns? Das macht doch alles keinen Sinn!“ In meinem Kopf jagt ein Gedanke den nächsten. Wo nimmt Shirani das ganze Geld her? Warum lügt sie alle an? Und wo ist sie jetzt gerade? Wirklich in Selvadorada?

„Das bringt uns doch alles nicht weiter.“  Es klingelt und Leo steht auf. „Das muss der Pizzaservice sein.“ Auf dem Weg zur Tür dreht er sich nochmal um. „Ich habe das dumpfe Gefühl, dass Shirani uns noch mehr verheimlicht. Du musst unbedingt mit ihr reden, Joelle. Nur so kommen wir der Sache auf die Spur.“