Kapitel 3: Dämmerung


Am nächsten Morgen reißt mich die nervtötende Vibration meines Handys aus einem Tiefschlaf.

"Lux? Wo sind Sie?" Thoms Stimme schallt aus dem Lautsprecher, sobald ich abgenommen habe.

"Zu... Zuhause?!" Mit schläfrigen Augen versuche ich das Ziffernblatt der Uhr auf meinem Nachttisch zu entziffern.

5 Uhr 42.

"Gut. Letzte Nacht gab es wieder einen Einbruch. Kommen Sie nicht aufs Präsidium, sondern fahren Sie direkt zum Tatort. Inselstraße 4. Alles weitere dann vor Ort."

Bevor ich auch nur einen zustimmenden Laut von mir geben kann, hat er aufgelegt.

Wie in Trance wanke ich ins Bad und halte mein Gesicht unter den kalten Wasserstrahl. Dann schlüpfe ich in meine Sachen, greife mir in der Küche noch schnell einen Apfel und mache mich auf den Weg zur Fähre. Ich erwische die Abfahrt um 6 Uhr 15 und atme an Bord erst einmal tief durch.

Je näher wir der Insel kommen, desto beklemmender wird mein Bauchgefühl. Wahrscheinlich liegt es an dem dürftigen Frühstück. Oder hat es damit zu tun, dass ich dabei bin meinen ersten Tatort in Windenburg aufzusuchen?

Die Fahrt ist schneller vorbei als gedacht und als ich wieder festen Boden unter den Füßen habe, erhellen die ersten Sonnenstrahlen bereits ganz Windenburg.

Meine Eltern haben Recht, ich kenne die Stadt wie meine eigene Westentasche. So dauert es auch nicht lange, bis ich das Haus mit der Nummer 4 erreiche. Ich entdecke Herrn Thom, der mit zwei Kollegen von der Spurensicherung redet. Erst als ich vor ihm stehe und zu einer Begrüßung ansetzen will, bemerkt er mich.

"Lux, da sind Sie ja endlich. Ging das nicht schneller?"

Ich will etwas erwidern, aber er fährt schon fort.

"Und wo zum Himmel ist Ihre Uniform?"

Ich schlucke schwer. "Auf dem Präsidium. Dort ziehe ich mich immer um..."

"Verdammt nochmal. Haben Sie wenigstens Ihren Dienstausweis dabei?"

Ich nicke.

"Na herzlichen Glückwunsch. Gehen Sie zu dem Nachbarshaus dort drüben und nehmen Sie die Aussage auf. Ich will wissen, ob der Nachbar etwas gehört oder gesehen hat."

Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen verschwindet er zum Tatort.

Ich seufze und mache mich auf den Weg hinüber zum Nachbarshaus. Es ist ein moderner Bau mit hohen Glasfenstern und einer großen Terrasse auf der Rückseite. Als ich die Klingel betätige, bleibt mein Blick am Klingelschild hängen. Shirani Tukan...

Die Haustür öffnet sich und eine junge, großgewachsene Frau steht mir gegenüber.

"Joelle! Schätzchen! Was machst du denn um diese gottverdammte Uhrzeit hier?", ruft sie aus und starrt mich ungläubig an.

Ich bekomme kein Wort heraus. Shirani tippelt mir aufgeregt entgegen und breitet die Arme aus.

"Ach, Joelle. Hättest du dich doch vorher gemeldet! Ich hätte dich zum Frühstück eingeladen. Oder gleich eine Wiedersehens-Party organisiert. Wie geht es dir?"

Ich räuspere mich und löse mich aus ihrer Umarmung.

"Hallo, Shirani. Ich freue mich auch, dich zu sehen."

Ich freue mich wirklich. Und ärgere mich wie am Abend zuvor, dass ich den Kontakt zu meinen Freunden damals einfach so abgebrochen habe. Allein beim Anblick von Shirani kommen Erinnerungen an unsere gemeinsame Jugend in mir hoch, die mein Herz vor Freude hüpfen lassen.

"Können wir kurz reingehen?"

Shirani lächelt mich angesichts meiner Unsicherheit mütterlich an und schiebt mich ins Haus.

"Es sieht noch alles ganz fürchterlich aus hier drinnen. Ich bin erst vor kurzem hierher gezogen, weißt du. Achte nicht auf die ganzen Kartons."

Ich hole meinen Dienstausweis hervor und halte ihn Shirani unter die Nase.

"Ich bin hier, weil letzte Nacht bei deinem Nachbarn eingebrochen wurde."

Shirani starrt mich an.

"Du bist Polizistin? Polizistin?" Dann bricht sie in schallendes Gelächter aus. "Ich glaub es einfach nicht! Aus einem von uns ist tatsächlich etwas anständiges geworden." Sie hält sich den Bauch vor Lachen und lässt sich dann auf einem der Sofas nieder. Ich setze mich zu ihr.

Ihr Lachen verklingt. "Du hast gesagt bei meinem Nachbarn wurde eingebrochen. Aber doch nicht bei Kira, oder?"

Ich schüttele den Kopf. "Nein, in der Nummer 4."

"Na ein Glück. Dabei gäbe es doch bei Dan und Kira mehr zu holen." Sie kichert wieder.

"Ist dir irgendetwas ungewöhnliches aufgefallen? Hast du etwas gesehen oder gehört?"

Shirani schaut mich tadelnd an. "Du willst doch jetzt nicht ernsthaft über diesen blöden Einbruch reden, oder?"

Ich erwidere ihren Blick, doch sie fährt ungerührt fort. "Ich würde viel lieber wissen wie es dir geht! Wo wohnst du? Wie geht es deiner Familie? Wir haben uns so lange nicht gesehen! Wir haben uns damals alle gefragt, wo du wohl hingegangen bist. Insgeheim hatte ich immer noch gehofft, du würdest wenigstens mal eine Karte schreiben oder so."

Shirani spielt mit ihrem Armband und schaut mich fragend an. "Also, was ist jetzt?"

Ich seufze tief und muss innerlich lächeln. Shirani hat es immer noch drauf, dass man ihr einfach nichts abschlagen kann. Also beginne ich zu erzählen, über meine Ausbildung und meine Erfahrungen in Downtown.

"Wow, da hast du ja eine ganze Menge erlebt!" Shirani strahlt.

"Wie ich höre ist bei dir auch nicht gerade wenig los." Ich lächle sie an. "Du hast viele Modeljobs und kannst viel reisen."

"Woher weißt du das?" Sie kneift die Augen zusammen und mustert mich. "Ich dachte du bist Polizistin und keine Detektivin."

Ich muss lachen. "Nein, nein. Ich habe dich nicht überwacht, keine Sorge. Gestern habe ich Dan und Kira getroffen, die haben mir davon erzählt."

"Du hast die beiden also schon getroffen, ohne auch mich zu fragen?" Shirani spielt die Beleidigte und beginnt zu schmollen.

Ich winke ab. "Ach was, das Treffen war rein zufällig. Leo hab ich auch getroffen, vorgestern an meinem ersten Abend. Windenburg ist einfach zu klein, als dass man sich nicht ständig über den Weg läuft."

Shirani nickt. "Da könntest du Recht haben. Ich bin, wie du ja weißt, viel unterwegs, deswegen sehe ich die anderen nicht besonders oft. Aber Dan und Kira treffe ich jetzt bestimmt öfter, wo wir doch nun Nachbarn sind."

"Was ist mit Leo? Die beiden haben gestern erzählt, dass er nicht so gut drauf ist. Und auch mir gegenüber war er sehr seltsam."

Shirani runzelt ganz leicht die Stirn. "Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen. Was meinst du mit seltsam?"

Ich sehe aus dem Fenster und zögere kurz. "Nun ja... Er kam mir sehr verbissen vor. Und Traurig. Er hat von... Clara geredet."

Shirani schweigt.

"Er glaubt, dass wir... naja, er sagte wir hätten alle... Schuld auf uns geladen... oder so."

Ich sehe sie wieder an. Shirani beginnt langsam zu nicken.

"Ja, so etwas in der Art hat er mir auch vor ein paar Jahren mehrmals einzureden versucht. Wirklich seltsam. Seitdem versuche ich ihm ehrlich gesagt aus dem Weg zu gehen."

Da Shirani wieder schweigt, fasse ich mir ein Herz. "Warum, denkst du, glaubt er das? Ich kann mir einfach keinen Reim daraus machen."

"Ich auch nicht. Wahrscheinlich hat er das ganze einfach noch nicht verarbeitet. War ja auch schrecklich dieser Abend. Aber meine Güte, es war ein Unfall. Und es ist 10 Jahre her. Er wohnt immer noch im Haus seiner Eltern und hat nichts aus sich gemacht. So langsam sollte er mal im Erwachsenen-Leben angekommen sein. Oder?!"

Ich nicke. "Ich kann mich gar nicht mehr an den Abend erinnern, ich..."

Shirani winkt ab. "Siehst du, du hast das alles hinter dir gelassen und das ist auch gut so. Wir müssen nach vorne schauen. Du hast einen tollen Job, ich hab einen tollen Job. Wir sind alle wieder vereint. Ach, Joelle, das ist so toll!"

Sie steht auf und streicht ihren Rock glatt.

"Jetzt muss ich mich aber fertig machen, ich habe heute Nachmittag ein Fotoshooting in Newcrest."

Sie geleitet mich zur Tür.

"Schreib mir auf Simstagram oder so, dann können wir unsere Nummern austauschen. Wir werden viel Spaß haben. So wie damals. Hach, cool, dass du wieder hier bist!"

Ihr Enthusiasmus steckt mich förmlich an. "Ja, das wird bestimmt toll!" Vor der Haustür fällt mir noch etwas ein. "Achso, Shirani. Was ist nun mit dem Einbruch? Hast du was gehört oder gesehen?"

Sie winkt ab. "Ich habe tief und fest geschlafen. Ich brauche meinen Schönheitsschlaf!" Sie kichert. "Ich bin von der ersten Fähre wach geworden, die hupt immer so laut. Das muss gegen viertel vor sechs gewesen sein."

Ich danke ihr und wir verabschieden uns draußen. Erst als ich Shirani versprochen habe, ihr zu schreiben, lässt sie mich gehen.


Da ich Herrn Thom am Tatort nicht mehr antreffe, mache ich mich sogleich auf den Weg ins Präsidium. Nachdem ich in meine Uniform geschlüpft bin, betrete ich das Großraumbüro uns sehe mich nach ihm um. Er sitzt an seinem Platz und winkt mich zu sich hinüber.

"Lux, da sind Sie ja. Was können Sie mir berichten?"

Ich erzähle ihm kurz, dass die Nachbarin keine Angaben zum Einbruch machen konnte.

Er sieht mich entgeistert an. "Und dafür haben Sie jetzt..." - er wirft einen Blick auf seine Armbanduhr - "2 Stunden gebraucht?!"

Meine Hände werden schweißnass. "Ja, tut mir Leid, die Fähre war zwischenzeitlich ausgefallen, ich..."

"Hören Sie schon auf damit. Verschwenden wir keine weitere Zeit. Stimmen Sie sich jetzt mit Kollege Merx ab, er hat die anderen Nachbarn befragt. Und dann schreiben Sie den Bericht, ich möchte ihn bis heute Nachmittag auf dem Schreibtisch haben. Und kümmern Sie sich um die Fingerabdrücke, sprechen Sie außerdem mit der Spurensicherung und überwachen Sie die Auswertung im Labor. Bis morgen früh brauchen wir die Ergebnisse. Diese Serie von Einbrüchen muss endlich aufhören. Der Polizeipräsident sitzt mir damit schon seit Wochen im Nacken."

Ich notiere mir alles und mache mich dann sofort an die Arbeit.

Auch die anderen Nachbarn haben nichts von dem Einbruch mitbekommen, sodass die Indizienlage schlecht aussieht.

Ich beginne im Labor damit, meinen Bericht zu schreiben. Währenddessen muss ich an das Gespräch mit Shirani zurückdenken. Leo scheint vor einiger Zeit auch mit ihr über Clara gesprochen zu haben, zumindest hat er es versucht, so wie er es jetzt mit mir getan hat. Es scheint ihm also sehr wichtig zu sein.

Ich beende den kurzen Bericht und drucke ihn aus. Auf dem Weg zu Herrn Thoms Schreibtisch nehme ich mir vor, nach der Arbeit Leo zu besuchen. Ich muss endlich wissen, was mit ihm los ist. Und dank Shirani weiß ich jetzt auch, wo er wohnt.