Kapitel 30: Blackout


In den nächsten Tagen versuche ich immer wieder Shirani telefonisch zu erreichen, aber entweder hat sie ihr Handy aus oder keinen Empfang. Die Arbeitswoche läuft nur schleppend voran. Umso glücklicher bin ich, als Maggy aus der Personalabteilung am Mittwoch vor meinem Schreibtisch Halt macht und mir mit strengem Blick für Donnerstag und Freitag frei gibt, da ich mehr Überstunden als erlaubt angesammelt habe.

Und dennoch stehe ich am nächsten Tag schon in aller Frühe auf. Ich habe mir vorgenommen noch am Morgen meine Einkäufe für das Wochenende zu erledigen, bevor der Supermarkt überlaufen ist. Er ist der einzige in der Gegend und das merke ich immer am deutlichsten nach Feierabend.
Nach einem schnellen Frühstück schnappe ich mir meinen Schlüssel und mache mich auf den Weg. Die Luft ist noch schön frisch. Ich sollte häufiger joggen gehen, denke ich, die Umgebung hier ist ideal dafür.

Ein paar Straßen weiter vermute ich eine Abkürzung zum Supermarkt und biege nach links ab. Ein Blick auf den Straßennamen lässt mich stutzen. Heuerallee. Der Name kommt mir bekannt vor. Heuerallee... Hat hier vielleicht eine Jugendfreundin gewohnt? Während ich in meinem Kopf noch nach einem Anhaltspunkt krame und weiter die Straße hinunterlaufe, klingelt mein Handy. Es ist Leo.

„Hallo Leo, was gibt‘s?“

„Hallo Joelle. Ich wollte nur fragen, ob du endlich mal mit Shirani sprechen konntest.“

„Leider nicht. Ihr Handy scheint aus zu sein. Sag mal, kommt dir die Straße Heuerallee bekannt vor?“

Er überlegt kurz. „Ich kenne die Straße, aber auch nur vom Durchfahren. Wie kommst du jetzt darauf?“

„Ich bin gerade auf dem Weg zum Einkaufen und laufe die Heuerallee runter. Ich weiß auch nicht. Mir kommt es so vor, als hätte ich den Namen kürzlich irgendwo gelesen.“

„Vinny wohnt doch auch in der Nähe. Vielleicht seid ihr da mal langgelaufen.“ Ich merke wie er sich Mühe gibt, dabei ganz normal zu klingen.

Ich blicke mich um. „Ja, kann sein. Vielleicht hast du Recht und…“ Ich bleibe stehen und mustere ein Haus auf der linken Seite, das vor mir aufragt.

„Ja? Joelle, bist du noch dran?“
„Ja, ja.“ Ich betrachte weiter das Haus. Es ist ein alter Bau. An seiner Rückseite scheint ein verglaster Neubau hervor.

Mein Herz beginnt schneller zu pochen. „Ich weiß jetzt wieder, woher ich den Straßennamen kenne, Leo“, zische ich ins Telefon. „Das ist eine Adresse von dieser Liste!“

„Was? Bist du dir sicher?“

„Ja! Und ich stehe hier vor einem Haus, das Clara auch in ihrem Tagebuch beschreibt. Weißt du noch? Ein Altbau, mit einem modernen Neubau hintendran. Ich bin mir ganz sicher, dass der Name auf der Liste steht. Ich muss gleich Vinny anrufen und ihn fragen, ob er hier war und die Adresse überprüft hat.“

Leo seufzt. „Aber die Liste hilft uns doch nicht weiter, Joelle. Du musst endlich mit Shirani reden!“

„Schon gut. Das mache ich, sobald sie wieder da ist. Ich rufe jetzt erst mal Vinny an. Bis dann, Leo!“
Ich lege auf. Heuerallee, na klar! Erleichtert, dass ich darauf gekommen bin, woher ich den Namen kenne, tippe ich Vinnys Nummer ein. Es klingelt viermal, dann endlich hebt Vinny ab.

„Joelle?“
„Hi Vinny! Hast du die Heuerallee Nummer…“ - ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um die Hausnummer zu erspähen – „... Nummer 55 von der Liste überprüft?“
„Bitte was? Entschuldige, aber wovon redest du?“
„Die Liste von ImmoSul. Du solltest doch die Adressen vor Ort überprüfen. Warst du in der Heuerallee 55 in Alt-Windenburg?“

 

„Heuerallee? Nein, da war ich nicht. Ich hab ja nicht alle geschafft, aber das hat uns doch sowieso nicht weitergebracht.“
„Ich stehe gerade vor dem Haus, Clara beschreibt es auch in ihrem Tagebuch!“
„Warte mal, Heuerallee? Das ist doch in meiner Nähe. Joelle, die Adresse steht nicht auf der Liste. Ich habe die Häuser, die in meiner Umgebung liegen, als allererstes überprüft.“
Ich runzele die Stirn. „Doch, doch. Ich bin mir ganz sicher. Ich sehe die Adresse vor meinem inneren Auge auf der Liste stehen.“

„Moment, ich schaue nach.“
Es wird still am anderen Ende der Leitung. Nach einigen Sekunden höre ich wieder Vinny.
„Hier steht keine Heuerallee. Ich habe mir die Liste doch abfotografiert. Die Adresse steht nicht drauf.“
„Was? Aber…“ Für einen kurzen Moment fehlen mir die Worte. „Das kann nicht sein“, flüstere ich.
„Ich weiß auch nicht. Meinst du nicht, dass du dich irrst?“
„Auf keinen Fall. Vinny, kannst du herkommen? Ich sag Leo Bescheid, damit er auch kommt.“
„Okay, wenn du meinst. Ich bin in einer Viertelstunde da.“
„Gut, ich warte hier. Ach, und bring Claras Tagebuch mit!“


Ich warte fast zwanzig Minuten, dann endlich taucht Vinny auf.

„Da bist du ja endlich“, rufe ich ihm entgegen und deute auf das Haus. „Schau, hier. Könnte das nicht dieses eine Haus sein, das Clara in ihrem Tagebuch beschreibt?“

Vinny bleibt vor mir stehen und mustert dann das Haus. „Hmm, ich weiß nicht.“

„Schau doch, der Neubau hintendran!“ Ich laufe am Haus vorbei, näher an die Rückseite heran. „Komm, sieh es dir an!“

„Lass das, das ist doch ein Privatgrundstück“, flüstert Vinny, folgt mir dann aber. „Ja, das ist ein Altbau mit einem angebauten Neubau. Bestimmt nicht der einzige in Windenburg, oder?“

Ich ignoriere seine Einwände und entdecke Leo an der Straßenecke. „Hey Leo, wir sind hier!“

Vinny und ich laufen zu ihm.

„Was ist denn los? Du klangst ja super wichtig am Telefon", fragt er und kratzt sich am Kopf.

Ich zeige ihm das Haus. „Das hat Clara in ihrem Tagebuch beschrieben. Los Vinny, such die Stelle mal raus.“

Widerwillig holt Vinny das Tagebuch hervor und blättert es durch. „Meinst du das hier?“

Er liest laut vor:

"22. April

Oh Mann, bin ich froh, dass ich bald nicht mehr zur Arbeit muss! Dans Vater fängt jetzt an halb Windenburg aufzukaufen und es ist irre viel zu tun. Ich hab heute schon wieder drei Überstunden gemacht! Zu meinen Aufgaben gehört jetzt auch, zu den frisch renovierten Häusern hier zu fahren und Fotos für die Exposés zu machen. Gestern zum Beispiel musste ich bis in die Altstadt fahren. Ich war ganz froh, dass noch zwei Handwerker da waren, denn alleine in diesen leeren Häusern finde ich es immer voll gruselig... Die zwei Typen waren aber auch seltsam, haben mich die ganze Zeit misstrauisch angeguckt. Naja, vielleicht haben sie mir nicht geglaubt, dass ich für Dans Vater arbeite.

Aber wie gesagt, bald bin ich ja weg hier! Wobei das Haus echt toll war! Es ist schon ganz alt, Dans Vater hat es komplett sanieren lassen und eine moderne Erweiterung angebaut. Wenn ich so viel Geld hätte, dass ich in einem solchen Haus wohnen könnte, würde ich es mir glaube ich zweimal überlegen, nicht doch in Windenburg zu bleiben."

„Da habt ihr es: Altstadt, altes Haus mit einer modernen Erweiterung.“ Erwartungsvoll sehe ich die beiden an.
Leo zuckt mit den Schultern. „Na und? Selbst wenn Clara hier war, hat das doch nichts mit ihrem Tod zu tun.“
„Doch“, widerspreche ich. „Es könnte sein, dass diese Liste etwas mit ihrem Tod zu tun hat und die Adresse dieses Hauses steht auf der Liste.“

Vinny seufzt und sieht mich an wie ein Kind, dem er erklären muss, dass es Väterchen Frost im wirklichen Leben gar nicht gibt. „Joelle. Die Adresse steht nicht auf der Liste.“
Er zieht sein Handy hervor und tippt darauf herum. Dann hält er es mir entgegen. „Hier ist das Foto der Liste. Die Adresse steht nicht drauf.“
Ich nehme das Handy in die Hand und vergrößere mir das Foto. Meine Augen überfliegen die Zeilen. Ungläubig gehe ich die Liste immer und immer wieder durch. „Das kann aber nicht sein“, fluche ich. „Vielleicht hast du beim Fotografieren einen Teil abgeschnitten?“

„Joelle, die Adresse steht nicht drauf!“ Vinny wird nun laut, aus seiner Stimme spricht Ungeduld.

„Warum glaubt ihr mir denn nicht? Ich habe die Liste in der Nacht mit eigenen Augen gesehen! Der Anblick hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt! Ich bin Polizistin! Ich bin mir zu 100 Prozent sicher!“

„Okay, na wenn das so ist, dann gehen wir zu dir nach Hause und schauen nach“, sagt Vinny, es klingt fast eingeschnappt. Dennoch scheint er überrascht von der Vehemenz in meiner Stimme.

„Schön, na dann los.“

Schweigend laufen wir die Heuerallee hinunter. Ich bemerke im Augenwinkel, wie Vinny und Leo vielsagende Blicke wechseln. Sie glauben mir einfach nicht, denke ich und beschleunige meine Schritte.

Als ich in der Lindenallee aufs Grundstück meines derzeitigen Zuhauses einbiege, staunen die beiden nicht schlecht.

„Boah, das ist jetzt deine Bleibe?“ Leo sieht sich um, während ich die Haustür aufschließe. „Da hat sich Dans Vater aber nicht lumpen lassen.“

Wir treten ein und ich führe die beiden ins Wohnzimmer. „Wartet hier, ich hole die Liste von oben.“
Zwei Stufen auf einmal nehmend sprinte ich ins Schlafzimmer und krame in meiner Tasche. Die Liste liegt gut verstaut ganz unten in einer Zeitschrift. Ich ziehe sie heraus und fahre mit dem Finger die Adressen entlang. Heuerallee. Heuerallee. Wo steht es?

Es steht nicht da. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Spielt mir mein Gedächtnis etwa einen Streich? Ich bin mir doch so sicher gewesen! Einen Moment lang stehe ich einfach nur da und versuche zu verstehen, was hier vor sich geht. Mit hängenden Schultern laufe ich schließlich nach unten zu den anderen beiden. Sie müssen bei meinem Anblick ahnen, dass sie Recht hatten.
„Die Adresse steht nicht drauf“, flüstere ich und lege die Liste auf den Couchtisch.
„Hey, du hast dich einfach getäuscht. Ist schon okay.“ Vinny wirft mir einen tröstenden Blick zu. In seinen Augen entdecke ich aber auch ein Stück Genugtuung.

Leo hält ein Blatt Papier hoch. „Was ist denn das hier? SecuritasSul? Klingt so ähnlich wie Dans Firma ImmoSul.“

„Was?“ Ich sehe auf. Leo reicht mir den Zettel. „Achso, ja. Das hat Dan mir gestern gegeben“, sage ich leise. „Er erzählte, in diesem Haus lasse sich alles auch übers Handy und Tablet steuern. Das sind die Zugangsdaten, falls ich es nutzen will.“ Ich runzele die Stirn. „Da steht SecuritasSul drauf? Ich glaube du könntest Recht haben... Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich in dem Archiv von ImmoSul die Liste in einem Ordner mit der Aufschrift SecuritasSul gefunden.“ Ich tippe auf das Logo. „Ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Das Logo kam mir damals schon so bekannt vor.“

Leo stöhnt. „Warum hast du das damals nicht gleich gesagt? SecuritasSul! Das könnte eine Tochterfirma von ImmoSul sein. Die machen bestimmt die Sicherheitstechnik in den Häusern.“

Meine Augen weiten sich und ich klatsche in die Hände. „Sicherheitstechnik, na klar! Deshalb wollte Clara auch deinen Vater um Rat bitten, Leo. Der kennt sich doch so gut mit Elektronik aus.“

„Dann geht es vielleicht um diese Smart-Technologie?“, wirft Vinny ein.
„Nein.“ Ich schüttele den Kopf. „Vor zehn Jahren gab es die noch gar nicht. Außerdem hat Dan erzählt, dass das hier das erste Haus ist, das sie mit der Technologie ausgestattet haben.“
„Sicherheitsüberwachung“, murmelt Leo. „Die Zahlen könnten Codes für Alarmanlagen sein.“

„Natürlich! Jetzt weiß ich wieder, wo ich das Logo schon mal gesehen habe!“ Ich stehe auf und beginne um den Couchtisch zu laufen. „Auf der Arbeit im Revier! Ich habe ein Ehepaar befragt, bei dem eingebrochen wurde. Das seltsame war, dass die Alarmanlage nicht angesprungen war, unser Labor hatte aber vermerkt, dass die Alarmanlage voll funktionsfähig sei. Sie konnten keinen Defekt feststellen! Ich kenne das Logo von SecuritasSul aus der Fallakte! Dort gab es ein Dokument mit den Parametern der Alarmanlage.“

Ich bleibe stehen und wir drei sehen uns einen Augenblick schweigend an. Dann ergreift Leo das Wort.
„Die Firma von Dans Vater hat damals also die Codes der verbauten Alarmanlagen dokumentiert, um so später unbemerkt in die Häuser einbrechen zu können?" Er schüttelt ungläubig den Kopf. "Sie müssen es ja nicht mal selbst tun, vielleicht haben sie die Daten an irgendwelche Banden verkauft. Und jetzt, nachdem ein paar Jahre ins Land gegangen sind, schlagen sie in ganz Windenburg zu.“

„Und nicht nur in Windenburg!“, füge ich hinzu und setze mich auf den freien Platz neben Vinny. „Es gibt zig-fache Fälle in der Umgebung, in Veronaville, Sunset Valley und Riverview. Und überall dort hat auch ImmoSul Büros, dort kaufen und modernisieren sie die Häuser.“ Ich schüttele den Kopf. "Ich kann es nicht fassen! Deshalb die ganzen Einbrüche und nie eine Spur - das hängt alles zusammen!"
„Clara muss damals von den Plänen erfahren haben“, flüstert Vinny. „Ich bin mir sicher, ihr Tod hat etwas mit dieser Liste zu tun.“

Ich runzele die Stirn. „Die Liste! Warum steht da die Heuerallee nicht drauf? Ich war mir doch so sicher!“
Leo zieht die Augenbrauen hoch. „SecuritasSul hast du vergessen, aber an die Heuerallee kannst du dich erinnern, oder was?“

Ich sehe wütend zu ihm herüber. „Ich breche nun mal nicht alle Tage in das Zuhause meiner Freunde ein und stehle Unterlagen. Tut mir Leid, aber die Situation war so extrem, da hatte ich offensichtlich ein paar Aussetzer. Aber als ich da raus war, habe ich nochmal einen Blick auf die Liste geworfen. Ich war mir so sicher, dass die Heuerallee drauf steht. Nein, ich bin mir immer noch sicher!“ Ich schließe die Augen. „Geranienweg, Grunestraße, Heuerallee, Hochstraße, Jakobweg… Das stand untereinander in der Mitte der Liste, ich sehe es vor meinem inneren Auge. Ich bin doch nicht blöd!“ Ich greife mir die Liste erneut. „Keiner dieser Straßennamen steht hier drauf. Das kann doch nicht sein!“

Vinny sieht mich nachdenklich an. „Wenn du dir so sicher bist… Und die Straßen da nicht drauf stehen… Ist das dann die richtige Liste?“
Wir schweigen.
„Meinst du… die Liste wurde vertauscht?“ Leo spricht damit einen Gedanken aus, den ich innerlich schon befürchtet, aber nie zugelassen habe. Weil er mir Angst macht.
Vinny räuspert sich. „Das würde ja bedeuten, dass…“

„Dass jemand gemerkt hat, dass ich die List geklaut habe“, vervollständige ich seinen Satz.
„Aber… Wir haben uns doch direkt am Tag, nach dem du die Liste besorgt hast, getroffen. Da habe ich sie dann abfotografiert“, flüstert Vinny. „Wo hattest du die Liste bis zu diesem Zeitpunkt?“

Ich überlege. „Ich hatte sie noch in der Nacht unter meinem Sofakissen verstaut. Am nächsten Morgen hab ich verschlafen und musste schnell zur Arbeit. Als ich wieder nach Hause kam, lag die Liste immer noch da und ich habe sie mitgenommen zu unserem Treffen.“
„Unter dem Sofakissen…“, Leo sieht mich pikiert an. „Standardversteck. Oh Mann, glaubt ihr wirklich, die Liste wurde ausgetauscht? Das können ja dann nur Dan oder Kira gewesen sein. Echt gruselig."
„Oder beide“, fügt Vinny nachdenklich hinzu.
„Auf keinen Fall Kira!“, rufe ich. Der Gedanke, dass sie etwas damit zu tun haben könnte, schmerzt mich so sehr, dass ich mir eingestehen muss, wie lieb ich sie in den letzten Monaten gewonnen habe.
„Nur weil sie deine Freundin ist, heißt das nicht, dass sie da nicht mit drin steckt“, erwidert Vinny.
"Okay, aber was machen wir jetzt?" Leo sieht uns beunruhigt an. "Das ganze gefällt mir ganz und gar nicht. Dan und vielleicht auch Kira spielen die ganze Zeit ein falsches Spiel."

"Wir sollten Dan zur Rede stellen", schlägt Vinny vor. Er verengt seine Augen zu schlitzen. "Ich weiß zwar nicht, ob diese Liste tatsächlich auch etwas mit dem Tod von Clara zu tun hat. Aber meine Schwester war da offensichtlich auf eine Sache gestoßen, die geheim bleiben sollte. Vielleicht klären wir jetzt nicht nur ihren Tod auf, sondern decken auch noch die Machenschaften in der Firma von Dans Vater auf."
"Wir sollten uns unsere nächsten Schritte gut überlegen", werfe ich ein. "Jede Handlung unsererseits kann unumstößliche Konsequenzen nach sich ziehen. Ich denke wir sollten meine Kollegen einweihen."
"Nein, wenn wir das tun, konzentriert sich die Polizei doch nur auf ImmoSul und die Einbrüche." Vinny klingt wütend. "Ich will den Tod meiner Schwester aufklären! Und dafür brauche ich Antworten von Dan. Da nützt es mir nichts, wenn der und sein Vater in Untersuchungshaft sitzen."
Ich seufze. "Lasst uns darüber nochmal nachdenken. Los, ich mache uns schnell ein paar Sandwiches. Mit vollem Magen denkt es sich leichter."


Während ich alles Essbare zusammensuche, setzen sich Vinny und Leo an die Küchentheke.

„Gut, gehen wir mal davon aus, dass Kira oder Dan oder beide dich in der Nacht beobachtet und bemerkt haben, dass du die Liste hast“, beginnt Vinny. „Dann haben sie, während du auf der Arbeit warst, die Liste ausgetauscht.“

„Genau, weil die wahre Liste dich zu Häusern geführt hätte, in denen in letzter Zeit eingebrochen wurde“, fügt Leo hinzu.

„Wir sollten gleich nochmal zu dem Haus gehen und uns umsehen. Vielleicht können wir sogar mit den derzeitigen Bewohnern reden“, werfe ich ein und schnippele ein paar Tomaten für die Sandwiches. „Danach kann ich ins Präsidium fahren und die Straßennamen, an die ich mich erinnere, durch die Datenbank jagen.“
"Deinen Kollegen sagst du aber noch nichts!" Vinny klopft ungeduldig mit den Fingern auf die Küchentheke. "Ich werde zu Dan fahren. Kommst du mit, Leo?"
„Ich weiß nicht..." Leo sieht ihn unsicher an. "Mit den Bewohnern von dem Haus in der Heuerallee sollten wir auf jeden Fall reden. Aber sollten wir dann nicht erstmal abwarten, was Joelle im Präsidium herausfindet? Vielleicht liegen wir ja auch ganz falsch..."
Vinny winkt ab. „Wir liegen richtig. Und was mich dabei so beunruhigt ist, dass Kira und Dan so ein falsches Spiel spielen. Meint ihr, sie haben es darauf angelegt, dass Joelle bei ihnen auszieht? Vielleicht haben sie Dans Eltern ja sogar zu sich eingeladen, um sie loszuwerden?“

Ich halte inne. „Das ist wirklich eine beängstigende Vorstellung. Bei Kira kann ich mir das nicht vorstellen. Dan schon eher. Aber immerhin versucht er es offensichtlich erst mal auf die sanfte Tour, mich von den Recherchen abzuhalten. Er hofft wahrscheinlich, dass ich aufgebe, wenn meine Nachforschungen ins Leere laufen.“
Leo lacht. „Ha! Sie haben ja keine Ahnung, dass du noch uns beide hast! So leicht geben wir nicht auf.“
Vinny nickt ernst. „Genau, und deshalb müssen wir jetzt schnell handeln. Sie wissen nicht, dass wir beide auch um die Liste wissen. Deshalb müssen Leo und ich zu Dan fahren und mit ihm über Clara reden. Und wenn er nicht mit der Sprache rausrückt, legen wir die Karten auf den Tisch.“
Ich seufze. "Ich habe kein gutes Gefühl, wenn ihr beide da allein hingeht. Mir wäre wohler bei der Sache, wenn ich meine Kollegen informiere. Nur zur Sicherheit."

Leo stutzt. „Was riecht denn hier so komisch?“ Er sieht sich um. „Und hört ihr das auch?“
Ich lausche. Ein leiser, hoher Ton ist zu hören. Eine Art Rauschen.
„Was ist das?“, frage ich.
Vinny steht auf und stellt sich neben mich. „Das ist der Herd.“
„Was? Den habe ich doch gar nicht angerührt!“ Ich beuge mich über die Kochplatte. „Du hast recht! Puh, das ist Gas!“ Ich wedele mit den Händen vor meiner Nase herum. Dann drehe ich an den Knöpfen an der Vorderseite. „Wie geht dieses Scheißding denn aus?“

Vinny schiebt mich sanft zur Seite und betätigt selbst die Knöpfe. „Funktioniert nicht.“

Auch Leo steht nun auf und sieht beunruhigt zu uns herüber.

Da fällt mir etwas ein. „Vielleicht spielt die Smart-Funktion verrückt!“ Ich laufe an Leo vorbei zur Tür. „Die Unterlagen liegen im Wohnzimmer. Moment, ich hole sie!“

Ich will die Tür öffnen, aber es geht nicht. „Die Tür ist verschlossen!“ Überrascht drehe ich mich zu den beiden um. „Sie ist zu!“

„Was?“ Leo läuft zu mir und zieht ebenfalls an der Tür.

„Los, die Fenster! Macht die Fenster auf!“, ruft Vinny und hält sich einen Arm vor die Nase. „Das Gas muss hier raus!“

Wir stürmen zu den Fenstern und rütteln an den Griffen. „Die sind auch verschlossen!“ Verzweifelt sehe ich die beiden an.

Vinny rauft sich die Haare, während Leo mich nur anstarrt.

„Scheiße. Die bringen uns um! Von wegen ‚sanfte Tour‘! Die bringen uns um, Mann!“
Leo schlägt gegen die Fenster. „Hilfe! Hallo, kann uns jemand hören?“

Vinny greift sich einen der Barhocker. „Weg da, Leo!“
Er holt aus und wirft den Hocker mit aller Wucht gegen die Scheibe. Der Hocker prallt am Glas ab und Vinny kann ihm nur in letzter Sekunde ausweichen. „Was ist das denn für Glas, verdammt?“
Mir wird schwindelig. Erst jetzt bemerke ich, wie sich in den letzten Minuten meine Atmung beschleunigt hat. Das Gas beginnt bei mir schon zu wirken.
„Mir ist schlecht“, flüstere ich und lege mich auf den Boden.

Leo beugt sich zu mir herunter. „Halte dir was vor die Nase und versuche so flach wie möglich zu atmen.“ Er legt mir eine Hand auf den Arm. „Wir kommen hier schon noch raus.“
Aus dem Augenwinkel sehe ich wie Vinny auf eines der Fenster einschlägt. Mit jedem Schlag scheint seine Kraft nachzulassen. „Mann, wird mir übel…“ Er stützt sich an der Wand ab und sieht zu uns herüber. Dann reißt er weit die Augen auf. „Handy! Warum habe ich daran nicht früher gedacht?“

Er greift in seine Hosentasche, holt sein Smartphone hervor und tippt darauf herum. Ungläubig starrt er es an. „Kein Empfang. Wie kann das sein?“

„Ein Notruf geht oft auch ohne Empfang“, flüstere ich. Mein Kopf wird auf einmal ganz schwer. Ich sehe Leo verschwommen über mir, der sich einen Arm vors Gesicht hält.

Dann sitzt Vinny auf einmal neben mir. Er tippt auf dem Display herum und wird von einem Husten geschüttelt. Sein Handy fällt ihm aus der Hand.
Ich spüre nur noch Leos Körper auf meinen sacken. Dann wird mir schwarz vor Augen.