Kapitel 31: Flashback II


Erst ist alles schwarz. Dann werde ich von einem gleißenden Licht geblendet. Mit einem Mal ist alles weiß um mich herum und ich werde eins mit dem Licht. Es fühlt sich alles ganz leicht an. Als wenn ich schweben würde. Meinen Körper spüre ich schon gar nicht mehr. Es ist still. Ich schwebe durch Zeit und Raum. Raum und Zeit. Etwas drängt sich in mein Blickfeld. Etwas Dunkles. Das Weiß scheint sich erst dagegen aufzubäumen, aber das Dunkle nimmt jetzt Überhand und hüllt mich ein. Es ist die Nacht. Ich sehe das Meer. Den Strand. Das Lagerfeuer. Und den sternenklaren Nachthimmel über mir.

Ich bin nicht allein. Um mich herum sehe ich vertraute Gesichter. Es ist auch nicht mehr still. Musik schallt lautstark in meinen Ohren, übertönt die an die Klippen schlagenden Wellen und gibt den Rhythmus vor, in dem sich die Körper um mich herum bewegen.

Sie sind alle da. Clara. Shirani. Kira. Dan. Leo. Tommy. Merlin. Und ich.
Die anderen tanzen um das Feuer herum und ich tue es ihnen gleich. Wir lachen.

„Ich brauche Nachschub!“ Kira löst sich aus der Gruppe und wankt Richtung Bar.
„Wir haben nichts mehr hier unten“, ruft Merlin ihr zu, aber Kira ist viel zu sehr damit beschäftig, sich auf den Beinen zu halten. Sie tippt mit zusammengekniffenen Augen auf ihrem Handy herum und versucht dann, ein Foto von sich zu machen.
„Huch!“ Mit einem Mal verliert sie das Gleichgewicht und landet im weichen Sand.

Ich helfe ihr hoch. „Komm Kira, du musst dich hinlegen.“

„Nein, nein, ich will… weitertanzen.“

Ich stütze sie und schüttele den Kopf. „Du kannst dich noch nicht einmal allein auf den Beinen halten, wie willst du da tanzen?“

Sei sieht mich verwirrt an. „Was?“
Ich seufze. „Komm mit.“ Schweigend gehen wir den Strand entlang und den Weg hinauf zum Haus. Ab und an schnauft Kira neben mir oder murmelt unverständliches Zeug vor sich hin.

Im Haus bugsiere ich sie gleich ins Gästezimmer. Plötzlich kommt wieder Leben in Kiras Körper.
"Du hast sooooooooo schöne Augen!"

Sie steht vor mir, schneidet eine Grimasse und reckt mir ihren Zeigefinger entgegen.

"Ja ja, danke. Komm, du musst dich hinlegen!" Ich schiebe ihre Hand aus meinem Gesicht und versuche Kiras zarten Körper in Richtung Bett zu bewegen. Doch das ist schwerer als gedacht. Es scheint, als habe der Alkohol ihr übermenschliche Kräfte verliehen. Sie steht da wie ein Baum.

"Jetzt komm schon. Du bist total hinüber! Eben konntest du dich kaum noch auf den Beinen halten. Ab ins Bett mit dir."

"Nein! Ich will wieder runter zum Strand!" Kira stampft auf den Boden wie ein kleines Kind und zieht eine Schnute.

Ich seufze. "Die Party ist vorbei. Es sind schon alle gegangen."

Meine Lüge scheint Kira zu verunsichern. "Wirklich?"

"Ja, wir sind die letzten. Nun leg dich hin."

Kira sieht sich um. "Das ist aber nicht mein Zimmer!"

Ich nutze aus, dass sie abgelenkt ist und ziehe sie zum Bett. Mit einem sanften Schubs kann ich sie auf die Matratze befördern.

"Du bist im Haus von Dans Familie. Das ist das Gästezimmer. Du darfst hier schlafen." Ich höre mich an wie eine Mutter, die ihrem Kleinkind die Welt erklärt.

Kira versucht wieder hochzukommen, scheitert aber kläglich. "Ich will hier aber nicht alleine schlafen."

Ich nicke ihr beruhigend zu. "Ich hole dir ein Glas Wasser und bin gleich wieder da. Ich bleibe bei dir, okay?"

Kira nickt und dreht sich auf die Seite. "Okay, aber komm wieder, ja?!"
Ich laufe durch das stille Haus in die Küche und fülle ein Glas mit Leitungswasser. Zurück im Zimmer ist kein Laut mehr  zu hören. Leise stelle ich das Glas auf dem Nachttisch ab und warte. Kiras Augen sind geschlossen, ihre Atmung ist gleichmäßig. Erleichtert verlasse ich das Haus und laufe wieder hinunter zum Strand.

Auf halber Strecke kommt Dan mir entgegen. „Na, hast du noch was gefunden?“
Ich sehe ihn verdutzt an.

„Na den Nachschub! Wir müssten doch eigentlich noch was im Haus haben.“

Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich…“
Aber Dan hört mir schon gar nicht mehr zu und läuft nun im Eiltempo weiter den Weg entlang hinauf zum Haus.

Ich gehe weiter in die entgegengesetzte Richtung, den Weg hinunter zum Strand. Die Musik wird nun immer lauter. An einer Biegung stoße ich mit jemandem zusammen.

„Hoppla!“ Ich richte mich wieder auf und sehe Clara in die Augen. „Hey, alles okay?“, frage ich sie.
Sie sieht traurig aus. „Ja, alles gut.“ Sie setzt ein gequältes Lächeln auf und setzt ihren Weg nach oben fort. Ich möchte ihr gerne etwas hinterher rufen, aber da spüre ich eine Hand an meinem Arm.

„Wo bleibst du denn?“ Leo zieht mich an sich heran und gibt mir einen Kuss. „Ich warte schon die ganze Zeit auf dich, wo warst du so lange?“ Ich löse mich aus seiner Umarmung und greife seine Hand. „Jetzt bin ich ja da. Komm, wir suchen uns ein ruhiges Plätzchen.“ Er kichert und ich ziehe ihn hinter mir her an die Klippen. Bevor wir hinter einem Gebüsch verschwinden, werfe ich einen Blick zum Lagerfeuer, das sich nun schon in Sichtweite befindet. Merlin, Tom und Shirani stehen unweit davon an der Bar und reden miteinander. Shirani gibt Tommy einen Kuss auf die Wange. Dann schlägt sie den Weg nach oben zum Haus ein.                                                            

„Komm“, flüstert Leo und ich drehe mich um.

Dann wird wieder alles schwarz. Schwarz wie die Nacht. Ich spüre wie mein Körper wieder Form annimmt. Ich spüre rauen Stoff, der an meinem Arm kratzt und ein weiches Kissen, auf dem mein Kopf gebettet ist. Ich spüre einen Windhauch, der über mein Gesicht fegt.

Aber alles, was ich sehe, ist Shiranis Gesicht.