Kapitel 33: Frieden


„Können wir reden?“
Shirani vergräbt ihre Hände in den Taschen ihrer grauen Jogginghose. Unsicher blickt sie sich um.

„Was machst du denn hier? Ich dachte du bist in Selvadorada?!“ Ich stelle mich zu ihr in den Schatten der Bäume.

„Ist er da drin?“  Shirani macht eine kurze Kopfbewegung Richtung Präsidium.

Ich zögere. „Wen meinst du?“

„Dan natürlich“, flüstert sie mit Nachdruck.

Ich nicke. „Woher weißt du es?“

Sie wippt auf den Füßen vor und zurück. „Können wir ein Stück gehen? Dann erzähle ich dir alles.“

Im Schatten der Kirschbäume entfernen wir uns vom Präsidium. In meinem Kopf fahren die Gedanken Achterbahn. Dans Erklärungsversuche Kira gegenüber haben mich aufgewühlt. Und was will Shirani mir erzählen? Mir ist etwas mulmig zumute.

Shirani stoppt vor einer Bank und wir setzen uns. Sie blickt sich kurz um, dann nimmt sie die Sonnenbrille ab. Zum ersten Mal blicke ich ihr direkt in die Augen. Sie sieht müde aus.

„Ich muss dir das jetzt erzählen“, setzt sie an. „Ich hätte nie gedacht, dass die Sache dermaßen ausartet. Ich hätte nie gedacht, dass du in Gefahr geraten könntest.“ Sie seufzt.

Mein ganzer Körper scheint auf einmal unter Spannung zu stehen. Ich habe fast Angst vor den Worten, die gleich Shiranis Mund verlassen werden.

„Wo fange ich an?“ Shirani starrt ins Leere. Ihr Schweigen kommt mir wie eine Ewigkeit vor, auch wenn in Wahrheit nur Sekunden vergehen. „Du wolltest doch von mir wissen, an was ich mich noch erinnere von der Nacht unseres Abschlusses.“ Sie sieht zu mir herüber. „Ich weiß alles, Joelle. Ich habe gesehen wie Clara starb.“

Mein Herz pocht nun so stark, dass meine Brust schmerzt. „Wie.. wie ist es passiert?“, frage ich.

Shirani schluckt schwer. Sie scheint auf einmal mit sich zu ringen, öffnet ein paar Mal den Mund, aber sagt dann nichts. Schließlich presst sie hervor: „Ich bin damals, als wir am Strand gefeiert haben, nach oben gegangen. Ich wollte auf die Toilette gehen.“ Shirani stützt den Kopf auf ihre Hände und massiert sich die Schläfen, als ob sie böse Gedanken vertreiben wollte.

„Aber bevor ich ins Haus gehen konnte, habe ich Dan und Clara gesehen. Sie haben miteinander geredet, ziemlich laut. Ich bin neugierig geworden und näher heran gelaufen.“

Sie richtet sich wieder auf. „Hab mich hinter einem Baum versteckt. Ich glaube Clara war ziemlich betrunken. Dan schien mal wieder einen dummen Spruch gemacht zu haben, denn sie sagte so etwas wie: ‚Du bist genauso mies wie dein Vater! Nur mit dem Unterschied, dass dein Vater für seine krummen Geschäfte bald im Gefängnis landen wird!‘“

Shirani legt eine Pause ein.

„Und was hat Dan dann gemacht?“, frage ich.

„Er hat überrascht reagiert und gefragt, was sie damit meint. Und da hat sie dann angefangen von einer Liste zu reden und von krummen Geschäften, die in der Firma von Dans Vater vor sich gehen.“

Shirani blickt mich aus geröteten Augen an. „Er hat sie als Lügnerin beschimpft. Aber je mehr sie erzählt hat, desto klarer muss ihm geworden sein, dass sie die Wahrheit sagt. Dann kam es zum Gerangel und… Dan hat ihr einen heftigen Stoß versetzt. Und dann war es auf einmal… ganz still.“

 

Shirani verzieht das Gesicht und beginnt lautlos zu weinen.

Es fühlt sich so an, als würde mein Herz kurz stehen bleiben, nur um danach mit doppelter Geschwindigkeit wieder seine Arbeit aufzunehmen. „Er hat sie runter geschubst?“, frage ich. „Dan hat Clara umgebracht?“

Auch mir schießen nun Tränen in die Augen. Die Frage, der ich die letzten Monate nachgejagt bin wie der Fuchs dem Hasen, die Frage aller Fragen, die Leo, Vinny und mich umgetrieben hat, sie ist endlich beantwortet.

Shirani sieht mich traurig an. „Ich konnte es dir nicht sagen. Es tut mir so leid. Ich wollte nie, dass es so weit kommt.“

Ich schüttele den Kopf. „Wie passt das alles zusammen?“

Shirani seufzt. „Das ist kompliziert. Es geht um zwielichtige Geschäfte, die Dans Vater getrieben hat und Clara ist wohl dahinter gekommen.“

„Haben diese zwielichtigen Geschäfte zufälligerweise mit einer Liste und den Codes von Alarmanlagen zu tun?“, frage ich.

Shirani sieht mich erstaunt an. „Woher weißt du das?“

Ich zucke mit den Schultern. „Es hat lange gedauert bis wir dahinter gekommen sind. Und da war es schon fast zu spät.“

Ich versuche ruhig durch die Nase zu atmen, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. „Dann wusste Dan also nichts von den Geschäften seines Vaters“, stelle ich fest.

Shirani nickt nur.

„Wie ging es dann weiter? Dan und du habt mir beide erzählt, dass ihr im Haus wart, Claras Schrei gehört habt und dann zusammen zum Strand gelaufen seid. Wie war es wirklich?“

Sie seufzt. „Nachdem Dan Clara heruntergestoßen hatte, war mein erster Reflex, nachzuschauen, ob sie noch lebt. Deshalb bin ich aus meiner Deckung raus und auf Dan und die Klippen zugelaufen. Dan hat sich richtig erschrocken, mich zu sehen. Ich hab ihn angeschrien, aber er stand erst noch unter Schock.“

Sie schüttelt den Kopf. „Als ich dann anfing von der Polizei zu reden, dass wir einen Krankenwagen rufen müssen und so weiter… da war er plötzlich wie ausgewechselt.“

„Inwiefern?“

Eine Gruppe von Jugendlichen läuft an uns vorbei und Shirani wartet, bis sie wieder außer Hörweite sind.

„Naja, er war plötzlich sehr wütend. Er hat gesagt, wenn ich die Polizei rufe oder irgendjemandem erzähle, was ich gesehen habe, wird er gegen mich aussagen. Er hat mir den Streit, den ich mit Clara hatte, vor Augen geführt und gesagt, dass ich ein viel stärkeres Motiv hätte als er.“

Sie schüttelt den Kopf und schluckt erneut die Tränen weg, die sich wieder ihren Weg nach draußen bahnen. „Ich stand immer noch unter Schock und hatte furchtbare Angst. Ich wollte doch nicht ins Gefängnis kommen! Dann hat Dan mir noch eingebläut, was ich aussagen soll. Dass wir beide zusammen im Haus waren, als das mit Clara passiert ist. Und dass es wahrscheinlich ein Unfall war. Dann sind wir zusammen nach unten zum Strand gerannt.“

Ich atme tief ein und merke erst jetzt, dass meine Beine zittern. Würde ich stehen, wären sie schon längst eingeknickt. „So langsam fügt sich alles zusammen“, murmle ich und seufze. „Ach Shirani, warum hast du dich nur keinem anvertraut?“

Sie lacht kurz auf, aber es klingt nicht fröhlich. „Einige Tage nach dem Vorfall, als wir alle schon unsere Aussagen bei der Polizei gemacht hatten, hat Dan mich noch einmal kontaktiert. Er hatte mit seinem Vater über die Sache geredet und mir ein Angebot gemacht.“ Shirani zögert. Sie rückt auf der Bank vor und zurück. „Er hat gesagt, sein Vater zahlt mir jeden Monat 3.000 Simoleons, wenn ich schweige. Wenn meine Schwestern mit der Schule fertig seien, würde er mir 5.000 Simoleons im Monat zahlen, damit sie studieren können. Und er stellte mir in Aussicht, dass ich kostenfrei in einer Immobilie der Firma wohnen dürfte.“ Sie blickt auf. „Ich habe das Angebot angenommen.“

 

Ich erwidere nichts, sondern lasse die Worte erst mal in mir nachklingen.

Shirani sieht mich bittend an. „Verstehst du mich wenigstens ein bisschen? Meine Schwestern und mein Vater waren und sind mein ein und alles! Ich hatte einen miserablen Schulabschluss und absolut keine Ahnung, womit ich mein Geld verdienen sollte.“ Sie beißt sich auf die Unterlippe. Dann fügt sie leise hinzu: „Natürlich war das falsch. Aber ich war jung. Und während die Jahre vergangen sind, habe ich Gefallen daran gefunden, sorgenfrei leben zu können.“

„Sorgenfrei?“, wiederhole ich erstaunt. „Du hast einen Totschlag gedeckt! All die Jahre!“

 

Shirani fällt es schwer, mir in die Augen zu sehen. Sie hält den Blick für ein paar Sekunden, dann schaut sie wieder zu Boden. „Ich habe das alles verdrängt. Ich habe ja auch gearbeitet. Hatte ein paar Modeljobs. Ich musste kleine Notlügen erfinden, damit meine Familie und Freunde mir glauben, dass ich meinen Lebensunterhalt mit dem Modeln verdiene. In Wahrheit bekam ich dafür nicht viel Geld. Aber mit dem Zuschuss von Dans Vater konnte ich so leben, wie ich es mir immer erträumt hatte. Ich konnte das Studium meiner Schwestern bezahlen. Ich konnte meinem Vater seine Wünsche erfüllen. Ein neues Auto zum Geburtstag. Einen Urlaub jedes Jahr im Sommer. Ich konnte selbst viel reisen und dabei so tun, als würde ich Modeljobs in aller Welt haben.“

„Das war natürlich sehr bequem.“ Ich runzle die Stirn. „Aber hast du all die Jahre nicht einmal an Clara gedacht? An ihre Familie, die die Wahrheit über ihren Tod nicht kannte? Hatten sie es nicht verdient, die wahren Umstände ihres Todes zu kennen?“

Shirani nickt langsam. „Ganz vergessen kann man so etwas nicht. Aber ich würde sagen, ich habe die Sache die meiste Zeit erfolgreich verdrängt.“

Ich lehne mich auf der Bank zurück. „Und als ich dich vor einigen Monaten gefragt habe, an was du dich erinnerst von der Nacht - da hast du auch nicht in Erwägung gezogen, dich mir anzuvertrauen?“ Ich hebe eine Hand. „Das soll kein Vorwurf sein, sondern ist eine ernst gemeinte Frage. Ich meine, ich war zehn Jahr weg. Ich kann mir vorstellen, dass ich nicht die ideale Person dafür war. Oder eben gerade deswegen? Ich weiß es nicht.“

Shirani wiegt den Kopf von rechts nach links. „Vielleicht hätte ich es dir sogar irgendwann erzählt. Aber Dan hat ziemlich früh gemerkt, dass du uns alle nach der Sache mit Clara fragst. Er hat mich damals erneut unter Druck gesetzt, nichts zu sagen. Immerhin war ich gerade in das neue Haus auf der Insel gezogen, das seine Firma kurz zuvor renoviert hatte. Meine Schwestern sind mitten im Studium. Das alles wollte ich nicht aufs Spiel setzen.“

„Und wie ist das Ganze dann eskaliert? Woher wusste Dan, dass Leo, Vinny und ich ihm auf der Spur sind?“

Shirani verzieht das Gesicht. „Ich weiß es nicht genau. An einem Abend stand Dan plötzlich vor meiner Tür und hat gesagt, ich müsste eine Weile verschwinden. Ihr drei würdet zu viel herumschnüffeln. Er hatte wahrscheinlich Angst, dass ich einknicke, wenn ihr nochmal mit mir redet. Er hat mir eine Adresse in Veronaville gegeben und gesagt, ich solle mein Handy ausschalten und nur einmal am Tag auf Nachrichten überprüfen. Er würde mir Bescheid geben, wenn ich zurückkommen könne.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Da habe ich dann meiner Familie erzählt, ich hätte einen Job in Selvadorada und bin abgereist.“

„Und warum bist du dann jetzt hier?“

„Ich habe gestern am späten Abend mein Handy angemacht. Es war eine Nachricht von Kira auf der Mailbox. Sie hat schrecklich geweint und etwas von Dan gefaselt, und dass er dich umbringen wollte und festgenommen wurde. Da habe ich den nächsten Zug genommen und bin sofort hergekommen.“

Ich sage nichts. So richtig begreifen kann ich noch nicht, was Shirani mir die letzte halbe Stunde erzählt hat.

„Ach hier bist du!“ Überrascht drehe ich mich um. Leo steht hinter uns und starrt nun erschrocken Shirani an. Dann kommt auch Vinny angelaufen.

„Joelle! Du warst plötzlich verschwunden und…“ Er stockt, als er Shirani entdeckt. „Oh.“

„Wir dachten, du wärst in Selvadorada…“ Leo kommt um die Bank herum gelaufen und stellt sich mit verschränkten Armen vor uns auf.

„Tja, ich…“ Shirani sieht mich verzweifelt an.

„Shirani möchte euch etwas erzählen.“ Ich drehe mich zu Vinny um. „Aber als erstes möchte ich dir Claras Bruder vorstellen.“

Shirani zuckt zusammen. „Claras Bruder?“ Sie mustert Vinny, der sich nun zögerlich neben Leo gestellt hat. „Vinny ist Claras Bruder?“

„Ja, das ist er. Magst du ihm vielleicht erzählen, was du mir gerade erzählt hast?“ Ich nicke ihr ermutigend zu.

Dann erzählt Shirani noch einmal in Kurzform von dem verhängnisvollen Abend von vor zehn Jahren. Erst leise und stockend, dann immer schneller, als würde sie die Sache schnell hinter sich bringen wollen. „Es tut mir so leid, Vinny! Ich… ich konnte ihn nicht aufhalten! Ich hätte nichts tun können!“

Vinny starrt sie nur an. Ich versuche ihn zu lesen, aber es gelingt mir nicht. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob er Shirani noch zuhört.

„Du hättest es einfach viel früher sagen müssen“, presst er leise hervor. „Viel früher. Dann wäre mir und meiner Familie einiges erspart geblieben.“

„Ich wollte auch nie, dass ihr in Gefahr geratet! Ich hätte nie gedacht, dass Dan…“

Vinny dreht sich auf der Stelle um und entfernt sich von uns.

Ich springe auf.

„Leo, du bleibst bitte bei ihr.“ Ich deute auf Shirani und renne dann Vinny hinterher.

„Hey, warte!“ Ich hole ihn ein und stelle mich vor ihn, damit er stehen bleibt.

Er sieht mich traurig an. „Ist ihr überhaupt klar, was sie damit angerichtet hat?“ Seine Stimme klingt wütend. „So egoistisch kann man doch gar nicht sein!“

Ich seufze und greife seine Hände. „Jetzt weißt du immerhin, was passiert ist. Das wolltest du doch. Du musst Shirani nicht verstehen. Sie wird ihre Strafe schon noch bekommen.“ Ich blicke zur Bank zurück. „Ich denke sie weiß, dass sie Fehler begangen hat.“

Vinny atmet ein paar Mal tief durch. „Ich muss das jetzt erst einmal sacken lassen.“ Er zieht mich an sich heran und hält mich ganz fest. Ich lasse es zu, mein Herz schlägt schnell gegen seine Brust. „Bleibst du heute bei mir, Joelle?“, flüstert er und vergräbt sein Gesicht in meinen Haaren. „Ich will heute nicht allein sein.“

Ich löse mich aus seiner Umarmung und meide seinen Blick. Dann nicke ich. „Okay. Ich muss aber unbedingt noch nach Kira sehen. Und jetzt begleiten wir Shirani erst einmal ins Präsidium.“

Wir kehren zu den beiden zurück und laufen dann zu viert zurück zur Polizeistation. Drinnen angekommen verabschieden wir uns von Shirani. „Erzähl ihnen einfach alles, was du mir auch erzählt hast. Ich bin froh, dass du dich der Vergangenheit stellst.“ Ich nehme sie in den Arm und rufe dann einen Kollegen herbei. Shirani nickt tapfer und hebt die Hand zum Gruß. Dann verschwindet sie mit dem Polizisten um die Ecke.

„Hey, Joelle!“ Kelly kommt auf uns zu gelaufen und winkt mich dann zur Seite. Sie mustert Leo und Vinny, die mir gefolgt sind.

„Die sind okay. Was gibt’s?“, frage ich.

Kelly zögert einen Moment. „Sind das Leo Kibitz und Vinny Yang?“

„Ja, warum?“

„Okay, ihr wisst von nichts, ja? Ich darf euch das eigentlich gar nicht erzählen.“ Sie wendet sich wieder mir zu. „Also, wir verhören grade den dritten Mann, den wir festgenommen haben. Er ist ein Freund von Dan Freys Vater und legt grade ein vollumfängliches Geständnis ab. Thom hat alle Hände voll zu tun. Gleich wird auch noch der Vater verhört.“ Sie verschränkt die Arme. „Ich dachte dich interessiert vielleicht diese eine Sache.“

„Was denn?“ Ich sehe sie neugierig an.

„Dan Frey hat es wohl Sorgen bereitet, dass du deine alten Freunde nach Clara ausgefragt hast. Er hat dann ziemlich schnell seinen Vater darüber informiert. Und der hat dann diesen alten Freund von sich beauftragt, dir nachzuspionieren. Dieser Freund hat gestanden, deine Treffen mit Leo und Vinny beobachtet zu haben – im Auftrag von Dan Freys Vater.

"Er ist euch auf Schritt und Tritt gefolgt.“ Sie wirft einen Seitenblick auf die beiden. „Außerdem hat er recherchiert und herausgefunden, dass Vinny der Bruder von Clara ist. Das hat die Sache offensichtlich eskalieren lassen.“  Sie holt kurz Luft. „Dan Frey hat heimlich die Liste ausgetauscht, die ihr gefunden habt. Aber seinem Vater war die Sache trotzdem zu heiß. Er hatte dann die Idee mit dem Haus, in das zu ziehen solltest. Der Freund von ihm hat im Nebenhaus Stellung bezogen und sollte den richtigen Moment abwarten, um das Haus abzuriegeln und die Gasleitungen per SmartHome-Technologie zu öffnen, sobald ihr zu dritt in der Küche seid. Und das war wohl schneller der Fall, als gedacht.“

Wir starren sie an. Leo schüttelt den Kopf. „Unfassbar.“

„Wir wurden beobachtet?“ Mir wird schlecht. Warum nur habe ich das nicht bemerkt? Als Polizistin muss man so etwas doch spüren!

Vinny legt mir eine Hand auf die Schulter. „Können wir jetzt gehen? Ich muss hier raus.“

Ich bedanke mich noch schnell bei Kelly, die uns ernst zunickt und dann wieder in den Tiefen des Präsidiums verschwindet.


Während der Fahrt mit der Fähre reden wir drei kein Wort. Der Wind bläst uns durch die Haare und kühlt mein Gesicht. Das ganze Blut, das mein Herz in den letzten Stunden wie verrückt durch meinen Körper gepumpt hat, scheint sich wieder gleichmäßig zu verteilen und mein Kopf hört auf zu glühen.

Erst als wir die hügelige Insel hinauf laufen und die weiße Villa vor uns aufragt, ergreift Leo das Wort. „Komisch, wieder hier zu sein.“

Wir bleiben vor dem Tor stehen.

„Es sieht alles anders aus als damals. Aber es ist hier passiert.“

Auch Vinny sieht sich vorsichtig um.

„Lasst uns erst mal reingehen.“ Ich drücke die Klingel und wir warten. Kurz darauf ertönt der Summer und das Tor geht auf.

Die beiden folgen mir zum Eingang des Haupthauses. Kaum sind wir da, öffnet sich die Tür und Kira steht vor uns. Sie trägt ihre Haare offen und hat sich umgezogen. Anstelle des Kleides trägt sie eine weite Hose und einen schwarzen Pullover.

„Hey“, kommt es schwach aus ihrem Mund. Ihre Wangen sind gerötet und Schweiß steht auf ihrer Stirn.

„Wie geht es dir?“ Ich will sie in den Arm nehmen, bin mir aber unsicher, ob sie das möchte. Sie sieht so zerbrechlich aus, dass ich fast Angst habe, ich könnte ihr wehtun.

Sie sieht über ihre Schulter zurück ins Haus. „Ich halte es hier nicht mehr aus.“ Dann macht sie einen Schritt auf uns zu und lässt die Tür ins Schloss fallen. „Die Kinder sind bei einer Freundin. Ich packe gerade das Nötigste zusammen, dann sind wir hier weg.“ Sie schnieft und verschränkt die Arme.

„Wo willst du hin?“

Kira zuckt mit den Schultern. „Weiß ich noch nicht. Erst mal nach Willow Creek, dort können wir eine Zeit lang bei meiner Tante unterkommen.“

Sie sieht kurz zu Leo und Vinny. „Ich begreife das einfach nicht. Wie konnte ich mich nur so in Dan täuschen?“ Sie schlägt die Hand vor den Mund und schüttelt den Kopf.

„Lass uns ein Stück gehen. Ich denke, wir müssen dir einiges erklären.“

Wir nehmen Kira in die Mitte und laufen los. Auf dem Weg Richtung Meer beginnen wir zu erzählen. Von Clara, die auf eine Straftat gestoßen ist, die ihr zum Verhängnis wurde. Von der Liste, die geheime Codes von Alarmanlagen enthält und die Dan ausgetauscht hat, als wir sie entdeckten. Von Vinny, der in Wahrheit Claras Bruder ist. Von Dan, der nicht nur Claras Tod zu verantworten hat, sondern auch bereit war, das Leben von uns dreien aufs Spiel zu setzen.

Als wir am Rand der Klippen zum Stehen kommen, ist alles gesagt.

Ich lege behutsam eine Hand auf Kiras Schulter.

„Eigentlich müsste ich jetzt erschrocken sein. Aber ich bin es nicht“, stellt sie fest. „Das alles ist so schrecklich, dass es meine Vorstellungskraft übersteigt.“

Sie sieht sich um. „Hier muss es passiert sein.“

Auch Vinny scannt nun die Umgebung ab.

„Dort drüben war früher der Eingang zum Herrenhaus. Und dort geht es hinunter zum Strand.“ Kira hebt die Hand und deutet hinter uns. Dann wendet sie sich wieder den Klippen zu. „Hier muss sie... gestürzt sein.“

Ich mustere besorgt Vinny, dem Tränen über die Wangen laufen.

Leo geht zu ihm und nimmt ihn in den Arm. Dieser Anblick rührt mich so sehr, dass auch ich anfangen muss zu weinen. Dann spüre ich auf einmal Kira, die mich an sich drückt.

„Jetzt wird alles gut“, flüstert sie in mein Ohr. „Jetzt kann sie in Frieden ruhen.“


ENDE