Kapitel 5: Finsternis


Ich setze mich wieder an den Küchentisch. In meinem Kopf läuten Leos letzte Worte wie Kirchenglocken. Selbstmord.

Auch Leo setzt sich wieder. Wir schweigen eine ganze Weile.

"Wie kommst du darauf?", frage ich schließlich langsam, blicke ihn dabei aber nicht an. So wie er die Worte ausgesprochen hat, ist er davon felsenfest überzeugt und das macht mir Angst.

"Es ist ganz einfach." Leos Stimme klingt wieder ruhig und gefasst. "Ich habe mir in den Tagen nach Claras Tod viele Gedanken gemacht. Und dabei sind mir Dinge aufgefallen, die mir die Augen geöffnet haben."

Ich schaue ihn nun doch an, denn ich spüre wie sein Blick auf mir ruht.

"Wir haben es nicht bemerkt, aber Clara ging es schlecht. Und daran haben wir alle Mitschuld."

"Erstens..." Leo hebt den Zeigefinger. "... war diese ganze Shirani-Tommy-Clara-Sache sicher belastend für sie."

"Was meinst du?"

Leo rollt mit den Augen. "Du warst doch dicke mit Shirani befreundet. Erzähl mir nicht, dass du diesen ganzen Streit um Tommy nicht mitbekommen hast."

Ich zucke mit den Schultern. "Während der letzten Schulwochen haben wir zwei doch viel zusammen rumgehangen, da habe ich alles rund um die Mädels nicht mehr so mitbekommen."

Leo schüttelt wieder den Kopf, ich weiß nicht das wievielte Mal an diesem Abend.

"Shirani hatte es auf Tommy abgesehen. Und Tommy hat das gefallen. Allerdings hat er auch mit Clara geflirtet und das nicht zu knapp. Ich glaube für Clara war schrecklich, dass Tommy sich nicht für eine von ihnen entschieden hat."

Ich wühle in meinen Erinnerungen. "Kann schon sein. Aber jeder wusste doch, dass Tommy mit allen möglichen Mädels rummacht. Ich finde, da kann man ihm keinen Vorwurf machen."

"Oh doch", wirft Leo ein. "Er hätte Clara deutlich machen müssen, dass er keine feste Beziehung will. Clara war noch nicht lange auf der Schule, gerade mal ein paar Monate. Sie hatte vielleicht keine Ahnung, wie er tickt. Wir dagegen schon!"

Ich horche auf. "Willst du damit etwa sagen, es wäre unsere Aufgabe gewesen, ihr das klar zu machen?!"

Leo zuckt mit den Schultern. "Ja, einer von uns hätte das tun müssen."

Ich bin noch nicht überzeugt. "Und weiter? Welche Schuld trägt deiner Meinung nach Shirani?"

Leo nimmt meinen Faden auf. "Shirani war eifersüchtig auf Clara, weil Tommy auch mit ihr geflirtet hat. Deswegen hat sie Kira bedrängt, dass diese Clara nicht auf ihre Geburtstagsfeier einlädt."

"Und diesen Abend hat Shirani natürlich genutzt, um sich ungestört weiter an Tommy ranzumachen. Clara muss sich dadurch ausgeschlossen gefühlt haben - verständlicherweise."

"Stimmt!" Ich erinnere mich plötzlich wieder an Kiras Geburtstagsparty. "Clara war nicht da. Aber Kira hat mir damals erzählt, dass sie abgesagt hätte?"

Leo lacht laut auf. "Tja, da hat sie dich wohl belogen. Ich hab an dem Abend mitbekommen, wie Shirani sich nochmal bei Kira für ihre Loyalität bedankt hat."

Ich muss schlucken. Warum habe ich von dieser ganzen Sache damals nichts mitbekommen? Meine Erinnerungen an die letzten Schulwochen scheinen nur aus Leo und mir zu bestehen.

"Und weiter?", frage ich. "Was ist mit den anderen?"

"Zweitens war da diese Sache mit Dan."

Ich schaue ihn fragend an.

Leo seufzt. "Clara hatte doch diese Leseschwäche. Es kam nicht selten vor, dass Dan sie deshalb aufgezogen hat. Nach außen hin hat sie sich meistens nichts anmerken lassen, aber ich kann mir vorstellen, dass sie das sehr verletzt hat."

"Das schlimmste war, dass Dan dauernd Witze über sie gerissen hat. Auch außerhalb des Unterrichts. Und keiner hat etwas dagegen getan!"

"Du auch nicht", werfe ich ein.

"Ich auch nicht", stimmt Leo mir zu. "Und auch nicht Merlin, Dans bester Freund. Weißt du noch, wie Merlin damals zu unserer Clique gestoßen ist? Er wurde übel gemobbt, von einigen Jungs aus dem Jahrgang über uns. Dan hat ein Machtwort besprochen und Merlin zu uns geholt. Er müsste also am besten wissen wie sich sowas anfühlt, hat aber immer fleißig mitgelacht, wenn Dan mal wieder seine Sprüche über Clara gemacht hat."

"Dan hat das doch aber nicht böse gemeint. Und ich glaube auch nicht, dass Clara sich so sehr daran gestört an. Ich habe sie als ein sehr starkes und selbstbewusstes Mädchen in Erinnerung. Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass die paar Sprüche und der Streit um Tommy sie so sehr verletzt haben, dass sie sich umbringt!"

"Ach ja?" Leo sieht mich herausfordernd an. "Kannst du dich noch an den Abend vor der Strandparty erinnern?"

Ich erwidere seinen Blick. "Keine Ahnung. Ich kann mich ja noch nicht mal richtig an die Party erinnern!"

"An diesem Abend waren wir bei deinen Eltern eingeladen. Du wolltest mich ihnen vorstellen."

Ich nicke. "Ja, an diesen Besuch kann ich mich ganz gut erinnern, aber wann das war... keine Ahnung."

Leo spricht nun lauter. "Es war wie gesagt der Abend vor der Partynacht. Du hast mich hier abgeholt und wir wollten gerade losgehen. Da stand Clara vor der Tür. Sie wollte uns dringend sprechen, war ganz aufgelöst."

"Und was haben wir gemacht? Haben uns damit entschuldigt, dass wir dringend zu deinen Eltern müssen und haben sie stehengelassen."

Leo bemerkt meinen verwirrten Blick. "Sie wollte sich uns anvertrauen! Und wir haben sie abgewimmelt! Wir zwei waren die einzigen beiden aus der Clique, zu denen sie noch gehen konnte. Tommy, Shirani und Dan waren Teil des Problems. Kira war eindeutig auf Shiranis Seite und Merlin auf Dans. Zu uns beiden aber hatte sie Vertrauen! Sie wollte Hilfe von uns und wir haben ihr diese Hilfe nicht gegeben." Leos Stimme zittert bei den letzten Worten. "Am Abend der Party muss irgendetwas vorgefallen sein, das das Ganze eskalieren ließ. Ich weiß nur noch nicht was. In den letzten Jahren habe ich versucht, die anderen damit zu konfrontieren, aber sie wimmeln mich immer wieder ab."

 

Da ich nichts erwidere, fährt er fort. "Verstehst du mich jetzt? Diese ganze Katastrophe wäre nicht passiert, hätten wir etwas unternommen. Hätten wir ihr Tommy ausgeredet oder Dan Einhalt geboten. Oder spätestens an diesem verdammten Vorabend Clara zugehört und uns auf ihre Seite gestellt."

 

Ich blicke auf die Uhr und stehe auf.

"Hast du denn gar nichts dazu zu sagen?" Leo folgt mir zur Tür.

Mein Magen hat sich zusammengezogen und mir ist übel.

"Ich..." Mein Hals fühlt sich auf einmal trocken an. "Leo, ich danke dir für deine Offenheit. Ich muss das ganze jetzt erstmal verdauen. Das war ganz schön viel auf einmal, weißt du."

Er nickt. "Tu das. Denk nochmal über diese ganze Sache nach. Ich wünsche mir einfach endlich mal jemanden, der das ganze so sieht wie ich. Ich möchte das doch auch hinter mir lassen. Das kann ich aber erst, wenn auch die anderen ihre Schuld eingestehen." Er seufzt und umarmt mich.

"Danke, dass du mir zugehört hast. Ich hoffe, du kannst dich bald wieder erinnern. Denn dann wird auch dir klar werden, was damals wirklich passiert ist."

Ich nicke und winke nochmal zum Abschied. Erst als ich in die kalte Abendluft trete und die schwere Holztür hinter mir ins Schloss fällt, löst sich die Spannung in meinem Bauch. Ich will jetzt nur noch nach Hause. Schlafen. Auf dem Heimweg ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass dieses Gespräch heute Abend doch besser nicht stattgefunden hätte. Ich stelle mich schonmal auf eine schlaflose Nacht ein.