Kapitel 6: Blitzlicht


Die Nacht verbringe ich schlaflos, mich in meinen Laken unruhig hin und her wälzend. Leos Worte wollen mir einfach nicht aus dem Kopf gehen. Einerseits erscheinen mir die von ihm vermuteten Gründe für einen Selbstmord nicht plausibel. Andererseits quält mich der Gedanke, sie könnten doch zutreffen – und mich somit mitschuldig an Claras Tod machen.

 

Die nächsten drei Tage rauschen nur so an mir vorüber. Herr Thom schüttet mich derart mit Arbeit zu, dass ich tagsüber gar nicht dazu komme mir weiter den Kopf über Clara zu zerbrechen. In den Nächten dagegen denke ich an nichts anderes.

 

Auch Kelly scheint meinen Gemütszustand zu bemerken. Geradezu mütterlich wartet sie abends mit dem Essen auf mich und versucht mich mit lustigen Geschichten aus dem Alltag einer Streifenpolizistin aufzumuntern. Ihre Fürsorge ist mir fast schon zu viel, sodass ich ganz froh bin am Wochenende das Haus für mich zu haben, da Kelly eine Freundin in San Myshuno besucht.

Um mich abzulenken, surfe ich am Samstagmorgen etwas im Web, da ploppt plötzlich ein Videoanruf auf. Meine Eltern. Die habe ich völlig vergessen!

Schnell zupfe ich mir meine zerrauften Haare zurecht, bevor ich den Anruf annehme.

„Hallo Kleines! Da bist du ja!“

Ich lächle in die Kamera. „Hallo Papa, hallo Mama!“

Zwei braungebrannte Gesichter sehen mir entgegen. „Warum hast du dich nicht gemeldet. Ist alles okay?“ Meine Mutter runzelt besorgt die Stirn.

Ich winke ab. „Alles okay, macht euch bitte keine Sorgen. Ich habe auf Arbeit einfach viel zu tun und bin abends immer todmüde.“

Mein Vater schaut zufrieden. „Das ist mein Mädchen, ein Arbeitstier durch und durch. Hast du denn wenigstens was schönes am Wochenende vor?“

„Klar“, lüge ich und nicke eifrig. „Ich unternehme was mit Kira und Dan. Wusstet ihr, dass die zwei jetzt verheiratet sind?“

Meine Mutter klatscht freudig in die Hände. „Nein! Wie toll! Ach, das freut mich aber! Sind die beiden also auch noch in Windenburg? Dann grüß die zwei mal ganz lieb von uns.“ Sie stößt meinem Vater sanft in die Seite. „Komm, lassen wir Joelle jetzt in Ruhe, sie muss sich doch noch schick machen für ihre Freunde.“

Ich unterdrücke ein Lachen und fahre mir verstohlen durchs Haar. Dann verabschieden sie sich, nicht ohne mir vorher das Versprechen abzunehmen, mich bald selbst bei ihnen zu melden, um ihnen von meinen ersten Arbeitstagen zu berichten.

Ich habe ein schlechtes Gewissen, meine Eltern angelogen zu haben, und suche in meiner Handtasche verzweifelt nach dem Zettel mit Kiras Telefonnummer. Warum nicht einfach mal bei ihr anrufen?

Kira geht nach dem zweiten Klingeln ran und scheint mehr als erfreut, meine Stimme zu hören.

„Joelle! Schön, dass du dich meldest. Was gibt’s?“

Ich druckse etwas herum und frage, was sie denn so am Wochenende vorhaben.

„Nichts besonderes. Dan ist gerade nochmal ins Büro gefahren. Er ist aber bis zum Nachmittag wieder hier. Wieso kommst du nicht einfach vorbei? Dann können wir ein bisschen quatschen und zusammen kochen!“

Ich nehme ihr Angebot dankend an und verspreche in spätestens einer Stunde da zu sein. Voller Vorfreude verschwinde ich im Bad und ziehe mich um. Ein Gespräch mit Kira wird mir nach der Nummer mit Leo sicher gut tun. Vielleicht kann sie mir helfen, mich wieder besser an die Partynacht zu erinnern. Außerdem bin ich gespannt, was sie von der ganzen Sache hält.

 

Eine knappe Stunde später verlasse ich die Fähre und schlage diesmal den Weg nach rechts ein, zum Nachbarhaus von Shirani. Es liegt hinter einer kleinen Erhöhung und als ich es endlich erspähe, stockt mir der Atem.

Ich hatte das Haus von Dans Vater erwartet, ein herrschaftliches Gebäude, in dem wir uns als Jugendliche während der Abwesenheit von Dans Eltern gerne die Zeit mit neckischem Versteckspiel vertrieben. Doch von dem altehrwürdigen Haus ist nun keine Spur mehr. Ein langgezogener moderner Flachbau erstreckt sich über die gesamte Breite des großflächigen Grundstücks und versperrt die Sicht auf das Meer. Dafür glitzert auf der Terrasse im ersten Stock hellblaues Poolwasser in der Mittagssonne. Ohne den Blick von dem monströsen Bau abwenden zu können, stolpere ich auf das Eingangstor zu und suche dort verzweifelt nach einer Klingel. Da ertönt auch schon eine blecherne Stimme aus einem unscheinbaren Lautsprecher neben der Einfahrt.

"Hallo Joelle! Warte, ich öffne dir."

Das Tor schwingt auf und ich betrete das Grundstück. Gleich rechts geht es zu einem kleineren zweistöckigen Gebäude, das ebenso luxuriös aussieht wie alles andere. Das muss das Gästehaus sein, von dem Kira sprach, denke ich und umrunde einen nicht gerade kleinen Springbrunnen. Kira erwartet mich an der Tür des Haupthauses.

"Wie schön, dass du angerufen hast! Komm doch rein."

Wir umarmen uns und sie bemerkt meinen staunenden Blick.

"Beeindruckend, oder?" Auch sie sieht sich lächelnd um.

"Was ist mit Dans Elternhaus passiert?", frage ich und folge Kira in den Wohnbereich.

"Während Dans Studium haben sich seine Eltern nach Sunset Valley zurückgezogen. Dans Vater leitet seitdem von dort aus die Geschäfte. Als er von einem Projektentwurf des Nachwuchsarchitekten Elias Bloom hörte, hat er hier alles abreißen lassen und ihn das Projekt auf diesem Grundstück umsetzen lassen. Und das Ergebnis siehst du ja."

Kira strahlt und bietet mir einen Platz auf der Couch an.

"Und wie kommt es, dass ihr jetzt hier wohnt?"

"Das Haus hatte nach unserer Rückkehr gerade den begehrten Architektenpreis gewonnen. Es gab genügend Kaufangebote, aber Dans Vater hat uns angeboten hier einzuziehen. Ich glaube er hängt immer noch an dem Grundstück und will es nicht in fremde Hände geben. Dan dagegen ist der Meinung, er will einfach noch ein paar Jahre mit dem Verkauf warten, weil der Preis sicher noch steigen wird. Keine Ahnung. Auf jeden Fall kann sich Archtikekt Bloom jetzt nicht mehr vor Aufträgen retten." Kira lacht und streicht gedankenverloren über das Polster neben sich.

"Aber jetzt erzähl! Wie war die erste Woche in deiner alten Heimat?"

Ich zögere kurz, fasse mir dann aber ein Herz und berichte von dem Gespräch mit Leo. Kira hört mir aufmerksam zu und schaut nur dann und wann nachdenklich aus dem wandhohen Fenster hinaus Richtung Strand.

Als ich geendet habe, seufzt sie tief. "Ach Joelle. Das klingt alles gar nicht gut. In was hat sich Leo da nur reingesteigert? Das ist doch absurd!"

Ich nicke. "Aber was ist, wenn er Recht hat?"

Kira winkt ab. "Nein. Das mit dem Selbstmord ist völliger Quatsch. Du hast doch Clara selbst erlebt. Sie war so ein selbstbewusstes, lebensfrohes Mädchen. Sie wollte nach der Schule für ein Jahr umherreisen. Und diese ganzen vermeintlichen Gründe, die Leo dir da einzureden versucht, haben doch alle weder Hand noch Fuß!" Sie ist jetzt richtig aufgebracht. "Clara hat es doch gefallen, mit Tommy zu flirten! Dass Shirani dadurch eifersüchtig wurde, war ihr egal. Ich bin mir sicher, sie wollte keine feste Beziehung. Viele Jungs aus unserer Schule hatten ein Auge auf Clara geworfen und sie genoss das."

"Genau", stimme ich ihr zu. "So habe ich das auch in Erinnerung, aber Leo sieht das völlig anders. Warum nur?"

"Na, weil er nur das sieht, was er sehen will! Er versucht eine Erklärung für diesen schrecklichen Vorfall zu finden und reimt sich diese ganze Angelegenheit so zusammen, wie er es gerne hätte. Dabei zieht er uns alle mit rein! Leo sollte endlich akzeptieren, dass das damals ein Unfall war!"

"Mama?", ertönt eine piepsende Stimme von irgendwoher.

Kira springt auf. "Das ist Tina. Oder Nina? Ich gehe mal nachsehen." Sie verschwindet ins untere Stockwerk.

Kurz darauf höre ich Kira rufen. "Komm ruhig nach unten, Joelle. Die Zwillinge sind jetzt beide wach!"

Ich folge ihrer Stimme und finde mich kurz darauf in einem Kinderzimmer wieder.

"Darf ich vorstellen? Nina und Tina."

Zwei strahlende Kinderaugenpaare blicken mir entgegen.

"Hallo ihr zwei." Ich beuge mich zu den beiden Mädchen hinunter und schüttele ihre Händchen. "Die beiden sind wirklich bezaubernd, Kira."

"Ach, das täuscht." Kira lacht verschwörerisch und bedeutet mir, mich wie sie auf eines der Bettchen zu setzen.

Während Nina und Tina anfangen sich um die Bauklötze zu streiten, nimmt Kira wieder den Gesprächsfaden auf.

"Und diese Sache mit Dan habe ich auch ganz anders in Erinnerung. Klar, er hat Späße über Clara gemacht. Aber sie hat doch immer mitgelacht! Das fanden ja gerade alle so toll an ihr: Dass sie sich selbst nicht so ernst nimmt. Clara war ein durch und durch unbeschwertes Mädchen, selbstbewusst - so jemand bringt sich nicht um."

Ich gebe einen zustimmenden Laut von mir. "Und die Partynacht?", frage ich dann leise.

"Was genau meinst du?" Kira steht auf und trennt die Zwillinge voneinander, die angefangen haben sich die Bauklötze gegenseitig an den Kopf zu werfen.

"Naja, ich kann mich an keine Details erinnern..."

Kira lacht laut auf. "Glaubst du ich etwa?! Ich vertrag doch nichts! Ich weiß nur noch, dass ich zusammen mit Shirani zur Party gekommen bin."

"Dann haben wir am Feuer getanzt. Alle zusammen, das war toll! Es war richtig gute Stimmung, das weiß ich noch."

"Achso, und hinterher hat mir jemand erzählt, dass du mich irgendwann nach oben ins Haus gebracht hast, weil ich so betrunken war und nicht mehr gerade stehen konnte." Sie kichert.

"Ich habe dich hoch gebracht?", frage ich verwirrt.

"Keine Ahnung, hat mir irgendwer danach erzählt."

Wir schweigen. Dann sagt Kira leise: "Eine Sache weiß ich aber noch. Ich hab Schreie gehört."

Ich schaue sie erschrocken an. "Wann?"

"Als ich im Haus war. Ich bin davon aufgewacht. Sie kamen vom Strand unten, ich habe sie bis ins Gästezimmer gehört." Sie steht auf und blickt aus dem Fenster des Kinderzimmers hinunter zum Strand. Mir läuft ein kalter Schauer den Rücken hinunter. "Ich bin dann hinunter gerannt... und dort standet ihr alle am Wasser. Alle, bis auf Clara."

Sie macht eine kurze Pause. "Das ist das einzige, was ich sonst noch weiß."

Kira räumt mit geübter Hand die Bauklötze in eine Kiste, nimmt dann Nina auf den Arm und Tina an die Hand. "Kommt, wir gehen jetzt hoch. Da könnt ihr weiterspielen, während Joelle und Mama was schönes kochen."

 

Eine Stunde später kommt Karl nach Hause, der den Tag bei einem Freund verbracht hatte und wenig später schließlich auch Dan.

"Joelle, wie schön!", begrüßt er mich freudig und umarmt mich kurz. "Und wie das hier duftet! Ich habe einen Riesenhunger."

Wir setzen uns alle an den Esstisch und stürzen uns auf die Makkaroni mit Käse.

 "Hattest du denn schon Gelegenheit das Wunderwerk von Elias Bloom zu besichtigen?", fragt mich Dan nach den ersten Bissen.

Ich brauche einen Moment, bis ich merke, dass er das Haus meint. "Äh, nein, noch nicht in Gänze..."

"Wie bitte? Hat Kira dir etwa keine Hausführung gegeben?", scherzt er und zwinkert seiner Frau zu. Die lächelt peinlich berührt.

"Er zieht mich gerne damit auf, dass ich unsere Besucher immer gleich durchs gesamte Haus führe", fügt sie erklärend hinzu und schiebt Nina einen Löffel Brei in den Mund.

Dan winkt ab. "Sie hat ja auch Recht, dieses Haus muss bewundert werden. Bloom hat sich damit selbst übertroffen! Wusstest du, dass der Stararchitekt Sam Miller sich kritisch gegenüber dem Entwurf geäußert hatte? Mein Vater hat Bloom trotzdem engagiert und tja, was soll ich sagen: Bloom wird seither als neuer Star am Architektenhimmel verehrt, während Miller Kundschaft verliert."

Ich nicke lächelnd und schiebe mir verstohlen noch eine Gabel Makkaroni in den Mund.

"Warum ziehst du nicht zu uns? Das Gästehaus wird so gut wie nie benutzt!", höre ich Kira unvermittelt fragen.

Ich sehe sie überrascht an. "Du meinst, auf Dauer?"

Kira wird rot. "Ich meinte nur, weil... Naja, du kennst deine Mitbewohnerin doch nicht, uns aber schon. Tut mir Leid, ich wollte nicht aufdringlich sein." Sie eilt zum Kühlschrank und holt ein Fläschchen heraus, das sie der jammernden Tina in die Hände drückt.

"Das ist wirklich lieb gemeint und das Haus ist bestimmt toll! Aber mit der Fähre bräuchte ich viel länger zur Arbeit und..."

Kira winkt ab. "Schon gut, ich hätte nicht so aufdringlich sein sollen. Du musst dich nicht erklären."

 

Während Kira nach dem Essen die Zwillinge ins Bett bringt, setzt sich Dan mit mir an den Kamin.

Nach kurzem Smalltalk über die Arbeit kommt er auf seine Frau zu sprechen.

"Ich glaube du hast Kira gefehlt. Deswegen will sie dich wahrschienlich auch mehr um sich haben, sie merkt, dass du ihr gut tust. Weißt du, ich arbeite momentan einfach sehr viel. Kira ist den ganzen Tag mit den Kindern Zuhause. Da fand sie die Vorstellung, dich jeden Tag ganz einfach sehen zu können, wohl einfach zu verlockend."

"Das verstehe ich. Ich habe auch schon festgestellt, dass ihr mir gefehlt habt. Ich weiß gar nicht mehr, warum ich damals einfach so verschwunden bin, ohne mich richtig zu verabschieden. Das tut mir jetzt Leid." Ich sehe gedankenverloren in die knisternden Flammen im Kamin.

Dan lächelt vor sich hin. "Das ist doch jetzt alles Schnee von gestern. War für uns alle eine schwere Zeit damals."

Kira gesellt sich zu uns und zusammen schwelgen wir in Erinnerungen unserer gemeinsamen Jugend.

Als es zu dämmern beginnt, verabschiede ich mich.

"Schön, dass du da warst, Joelle!" Kira drückt micht fest an sich.

Auch Dan und Karl verabschieden sich herzlich von mir.

"Und melde dich gerne bald wieder. Wenn du es nicht tust, mach ich es. Ich habe ja jetzt deine Nummer." Kira zwinkert mir zu und schließt dann leise die Tür hinter mir.

 

Draußen ist es frisch geworden. Ich schlage den Weg Richtung Fähre ein, überlege es mir dann aber nochmal anders und folge dem kleinen Weg hinter zum Strand. Ich spüre wie sich Gänsehaut auf meinem ganzen Körper ausbreitet. Das ist nur die Meeresluft, versuche ich mich zu beruhigen. Ich erreiche den Strand und schaue hinaus aufs Wasser.

Dann lasse ich den Blick über das kleine Strandstück schweifen. Hier haben wir damals gefeiert. Meine Augen bleiben an einer Lagerfeuerstelle hängen. Plötzlich durchzuckt es mich. Wie Blitze, die in meine Erinnerung einschlagen, tauchen Bilder vor mir auf. Ich schüttele mich, schließe die Augen und atme tief durch.

Als ich die Augen wieder öffne, ist es dunkel. Ich sehe Leo vor mir, den jungen Leo, wie wir uns unterhalten. Am Steg.

Dann wir alle zusammen, tanzend am Feuer.

Wie Blitzlichter tauchen immer mehr Bilder vor mir auf.

Kira, die betrunken herumtorkelt.

Ich bringe sie nach oben ins Haus.

Dann bin ich auf dem Weg zurück zum Strand. Ich treffe Dan. Er sagt, er geht noch mehr Bier aus dem Haus holen.

Leo. Wir küssen uns am Steg.

Wir sind beide leicht angetrunken und verschwinden im Gebüsch.

Und dann. Schwärze.

Plötzlich taucht ein weiteres Blitzlicht ein Puzzlestück meiner Erinnerung in gleißendes Licht.

Wir stehen am Wasser. Ich sehe nicht hin, weil Shirani schreit.

Ich blinzele ein paar mal mit den Augen und merke, dass es jetzt Tränen sind, die meinen Blick verschleiern. Ich wische sie weg, aber sie hören nicht auf, meine Wangen hinunterzulaufen.

Die Sonne ist inzwischen fast untergegangen. Ich sehe hinauf zu den Klippen und kann mich nun nicht mehr zurückhalten. Ein Schluchzen bricht aus mir heraus, ich knie mich in den weichen Sand und lasse die Tränen laufen.